Der Wahlkampf in der Türkei spitzt sich zu. Wenige Tage vor der ersten Runde der Präsidenten- und Parlamentswahl am Sonntag zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem autoritär regierenden Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan von der AKP und dem Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu ab. Im Osten des Landes wurde jüngst eine Wahlkampfveranstaltung mit Steinen angegriffen, im Regierungslager verglich Innenminister Süleyman Soylu die Wahlen mit dem Putschversuch von 2016.

Der bulgarische Politologe Dimitar Bechev, dessen Buch "Die Türkei unter Erdoğan – Wie sich das Land von der Demokratie und vom Westen verabschiedet hat" am 23. Mai erscheinen wird, hat mit dem STANDARD über die Chancen der Opposition gesprochen, das System Erdoğan nach mehr als zwei Jahrzehnten abzulösen.

STANDARD: Umfrageforscher sehen eine Woche vor der Wahl eine große Dynamik unter den Wählerinnen und Wählern. Herausforderer Kılıçdaroğlu führt in einigen Umfragen, andere sehen Erdoğan auf Aufholjagd. Warum wurde es überhaupt so knapp?

Bechev: Erdoğan hat ein Fundament an Wählern, etwa 40 Prozent, die für ihn stimmen, egal was passiert. Er kontrolliert auch die Medien und kann auf Staatsressourcen zurückgreifen, er hat also einen viel größeren Raum, um seinen Wahlkampf zu führen. Insgesamt ist es kein fairer Wettbewerb. Trotzdem startet Erdoğan von einer erstaunlich schwachen Position aus, auch wenn es jetzt heißt, er hole auf.

STANDARD: Vorletzte Woche war viel von gesundheitlichen Problemen Erdoğans die Rede, inklusive eines abgebrochenen TV-Auftritts. Halten Sie das für einen Trick, oder steht es wirklich nicht gut um seine Gesundheit?

Bechev: Offiziell hatte er eine Gastroenteritis (Magen-Darm-Grippe, Anm.). Das kann natürlich wahr sein, insgesamt mache ich mir aber nicht so große Sorgen um seine Gesundheit wie um den Wahrheitsgehalt seiner Botschaft. Sogar ohne eine mögliche Erkrankung gehen Erdoğan ganz einfach die Ideen aus, welche Erfolgsgeschichte er den türkischen Wählern erzählen könnte. Auch wenn in den in- und ausländischen Medien der türkischen Außenpolitik großer Raum eingeräumt wird, geht es am Ende um die Wirtschaft, vor allem für potenzielle Wechselwähler, die um ihr Auskommen bangen. Da ist die Türkei nicht anders als die meisten westlichen Demokratien. Die hohe Inflation und die Krise wegen der hohen Lebenshaltungskosten machen das Leben für große Teile der Bevölkerung zu einem täglichen Kampf gegen Verarmung.

Der türkische Präsident Erdoğan hofft auf seine Wiederwahl.
Foto: EPA/TOLGA BOZOGLU

STANDARD: Erdoğans Innenminister Süleyman Soylu verglich die kommenden Wahlen mit dem Putschversuch von Juli 2016. Warum hat es das Regierungslager nötig, eine so martialische Sprache anzuschlagen?

Bechev: Ihnen gehen ganz einfach die Ideen aus, weshalb jetzt einige versuchen, katholischer als der Papst zu sein. Dieses ständige Anspielen auf den Putsch, die Gefahren für die Demokratie und dass die AKP die einzig echte demokratische Kraft sei, verfängt aber nicht mehr. Leute wie Soylu wollen sich mit ihren Wortmeldungen einfach wichtigmachen. Es ist nämlich sehr schwer, die Opposition für die Ereignisse 2016 verantwortlich zu machen, die CHP (Republikanische Volkspartei von Kılıçdaroğlu, Anm.) und die anderen Parteien des Bündnisses waren damals strikt gegen den Putschversuch.

Wahlkampf in Istanbul.
Foto: IMAGO/Tolga Uluturk

STANDARD: Würde Erdoğan eine Niederlage überhaupt akzeptieren, oder würde er, ähnlich wie in den USA Donald Trump, seine Anhängerinnen und Anhänger zu Protesten anstacheln?

Bechev: Es kann natürlich zu Betrügereien kommen. Wir müssen dazu gar nicht über Trump sprechen, sondern uns einfach die Bürgermeisterwahl 2019 in Istanbul ansehen, wo der Oberste Wahlrat eine Wahlwiederholung anordnete. Das hat sich im Nachhinein gerächt (Oppositionskandidat Ekrem İmamoğlu gewann am Ende mit größerem Abstand als bei der ersten Wahl, Anm.), und das könnte im Fall des Falles auch heuer so sein. Klar ist aber, dass es, wenn man nicht nur die Wahlbehörden, sondern auch die Gerichte kontrolliert, institutionelle Tricks gibt, den Wahlausgang in Zweifel zu ziehen. Die Anhänger der AKP auf die Straßen zu rufen wäre die nukleare Option. Ich würde sie aber nicht ausschließen. Es besteht auf jeden Fall die Gefahr, dass eine der beiden Seiten einen sehr knappen Sieg erringt, was dann zu Protesten führen könnte.

Dimitar Bechev lehrt und forscht derzeit in Oxford.
Foto: Privat

STANDARD: Es gibt insgesamt vier Kandidaten, welchen Einfluss haben die beiden weniger bekannten Kandidaten auf das Rennen der beiden Großen?

Bechev: Die beiden sind sehr verschieden. Das Antreten von Muharrem İnce war sicher eine sehr gute Nachricht für die Regierung, weil er Kılıçdaroğlu genügend Stimmen wegnehmen könnte, um eine zweite Runde zu erzwingen. Die Unterstützung für ihn wird aber gerade wieder weniger, er verliert jedes Mal Stimmen, sobald er im Fernsehen auftritt. Während İnce die eher gemäßigten CHP-Wähler ansprechen soll, zielt Sinan Oğan auf einen anderen Teil des Oppositionsblocks ab, die İyi Parti (die nationalistische "Gute Partei" von Meral Akşener, Anm.), der er selber einst vorsitzen wollte.

STANDARD: Die türkische Verfassung verbietet eigentlich eine dritte Amtszeit für Präsidenten. Wie rechtfertigt Erdoğan seine Kandidatur?

Bechev: Die Doktrin ist, dass die erste Amtszeit nicht zählt, weil sie vor der Verfassungsänderung zu einem Präsidialsystem stattgefunden hat. Es ist ein bisschen wie in Russland, wo man 2020 Wladimir Putins Amtszeiten ebenfalls "annulliert" hat, damit er 2024 wieder antreten darf. Im Grunde geht es darum, dass die AKP die Institutionen kontrolliert, die darüber richten. Die Opposition hat sich entschieden, Erdoğans Legitimation nicht auf diesem Wege anzufechten, auch nicht, was dessen akademischen Grad anbelangt, den ein türkischer Präsident zwingend braucht, der im Falle Erdoğans aber höchst zweifelhaft ist. Zynisch gesprochen ist es für die Opposition aber vielleicht ohnehin erstrebenswert, gegen Erdoğan anzutreten, weil er sich im Laufe der Jahre von einer strahlenden Figur zu jemandem entwickelt hat, der für Fehler haften muss.

STANDARD: Wird die große türkische Diaspora, etwa auch in Deutschland und Österreich, weiter zu Erdoğan halten?

Bechev: Ich glaube schon, weil diese Menschen ja nicht so sehr belastet sind von den Härten der Wirtschaftskrise in der Türkei. Wenn sie bisher konservativ gewählt haben, werden sie es auch weiterhin tun. Diese Stimmen werden diesmal auch noch wichtiger für Erdoğan, die Diaspora könnte womöglich sogar zur Königsmacherin werden, weil jede Stimme, die ihm die Opposition im Ausland wegnimmt, sehr viel Gewicht hat. Fest steht aber auch, dass die meisten Faktoren, die in der Türkei wichtig sind, etwa, dass man Erdoğan einfach satt hat oder sich das Leben nicht mehr leisten kann, in Westeuropa keine große Rolle spielen.

Die Türkei erlebte nach 2000 einen großen Wirtschaftsboom, heute herrscht Krise.
Foto: REUTERS/Murad Sezer/File Photo

STANDARD: Was können sich die Kurdinnen und Kurden von der Wahl versprechen?

Bechev: Grundsätzlich sind die Kurden alles andere als eine homogene Gruppe, einige der engsten Vertrauten von Erdoğan sind kurdischer Herkunft. Für die linksgerichteten, nationalistischen Kurden, die etwa die HDP (Halkların Demokratik Partisi) wählen, ist die Wahl aber schon eine Art Hoffnungsschimmer, weil die Opposition, wenn sie gewinnt, durchaus deren inhaftierten Ex-Vizeparteichef Selahattin Demirtaş freilassen könnte. Zudem ist eines ihrer Hauptversprechen die Rückkehr zum parlamentarischen System, wovon die Kurden auch profitieren dürften. Schließlich würde etwa die Yeşil Sol Parti (Grün Linke Partei, YSP), die im Moment an der Spitze der kurdischen Bewegung steht, im Kampf um Mehrheiten zu einer wichtigen Akteurin. Kılıçdaroğlu, der zwar selbst nicht offen mit seinem vermutlich kurdischen Hintergrund umgeht, verspricht einen unverkrampfteren Umgang mit der ethnischen und religiösen Diversität des Landes, wovon auch die Kurden profitieren würden.

STANDARD: Wie Sie in Ihrem Buch beschreiben, war das verheerende Erdbeben in der Westtürkei 1999 so etwas wie der Startschuss für den Aufstieg Erdoğans. Welche Wirkung könnte das neuerliche Erdbeben im Februar 2023 auf dessen Karriere haben?

Bechev: Es hat klar die blinden Flecken in der Erzählung aufgezeigt, dass die Türkei unter Erdoğan zu einem hochfunktionellen und modernen Staat geworden sei. In Wahrheit hat die Türkei früher besser funktioniert, schon deshalb, weil nach den Erdbeben 1999 die Armee eingesetzt wurde, um bei der Suche nach Verschütteten zu helfen. Dieses mal ist sie in den Kasernen geblieben, was viele Leben gekostet haben dürfte. Auch was die Kommunikationsinfrastruktur betrifft, hat der Staat dieses Mal nicht funktioniert, weil er sich auf Mobiltelefone verlassen hat, die bekanntermaßen als erstes zusammenbrechen. Die Frage ist nun, wie viele der Menschen, die nach dem Beben ihre Häuser verloren haben, nun überhaupt werden abstimmen können. Erdoğan hat vom ersten Tag an die Botschaft verbreitet, dass sich das Volk nach dieser Katastrophe nun um die Regierung scharen müsse. Falls es zu einer Stichwahl um die Präsidentschaft kommt, die AKP aber die Parlamentswahl gewinnt, könnte Erdoğan auch suggerieren, dass nur er im Präsidentenamt für den Wiederaufbau sorgen könne.

Präsident Erdoğan (hier links auf dem Plakat) verfügt über weit größere Wahlkampfressourcen als Herausforderer Kılıçdaroğlu (rechts).
Foto: AP Photo/Emrah Gurel

STANDARD: In diesem Wahlkampf waren weniger antiwestliche Parolen zu hören als etwa 2017. Haben Sie das auch so wahrgenommen?

Bechev: Grundsätzlich befindet sich die türkische Außenpolitik schon seit einigen Jahren in einer Art Neustart-Modus, in dem man mit den einstigen Widersachern, also etwa Israel oder den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Beziehungen zu verbessern versucht. Das Erdbeben hat nun auch zu besseren Beziehungen mit Griechenland geführt. Gerade weil er nach den Beben Hilfe von außen braucht, macht sich Erdoğan jetzt keine neuen Feinde. Vor zwei Jahre hat er die Türkei auch in das Pariser Klimaabkommen geführt. Außenpolitik entscheidet in der Türkei aber nicht über Wahlen, auch die Blockade von Schwedens Nato-Beitritt tut eigentlich nichts zur Sache, was Wählerströme betrifft. Ob Schweden jetzt PKK-Mitglieder beherbergt oder nicht, ändert nichts am Alltag der Menschen, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können.

Dimitar Bechevs neues Buch erscheint am 23. Mai in deutscher Übersetzung.
Foto: HarperCollins

STANDARD: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Erdoğan und Putin beide vom Chaos in ihrem jeweiligen Land in den 1990er-Jahren profitiert haben. Was haben die beiden Präsidenten sonst noch gemeinsam?

Bechev: Natürlich das Image des "starken Mannes", das sie beide pflegen. Sie teilen aber auch die Weltsicht, dass sich der Westen auf dem absteigenden Ast befinde und die Zukunft einer multipolaren Welt gehöre, in der Russland und die Türkei mehr Platz an der Sonne haben. Erdoğan ist aber anders als Putin an einem Mehrparteiensystem orientiert, er glaubt an Wahlen und will sie auch gewinnen. In der Türkei gibt es zwar keine fairen, aber doch relativ freie Wahlen, während es in Russland eine solche Tradition überhaupt nicht gibt. Trotz allem verfügt Erdoğan über einen demokratischen Instinkt, das merkt man auch daran, dass ihn in der Türkei jeder kannte, als er 1999 seinen Aufstieg begann, während Putin zu Beginn seiner Präsidentschaft so gut wie unbekannt war.

STANDARD: Was würde ein Sieg Kılıçdaroğlus bedeuten für die Demokratie in der Türkei?

Bechev: Definitiv wäre es eine große Chance, zu einem offeneren und demokratischeren System zurückzukehren. Vermutlich würde sich auch das Verhältnis zum Westen ändern, und man könnte weg von diesem Handel kommen, in dem die Türkei dem Westen etwas gibt und dafür etwas bekommt. Ich rechne aber nicht damit, dass die EU-Mitgliedschaft wieder Thema wird. (Florian Niederndorfer, 9.5.2023)