Anfang des Jahres kam es zu Protesten gegen Emmanuel Macrons Pensionsreform – nicht allen Demonstrierenden ging es um dieses Thema.

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Die Proteste in Paris im vergangenen Februar richteten sich eigentlich gegen die Pensionsreform von Präsident Emmanuel Macron – doch einige Plakate thematisierten ein anderes Anliegen: "EU und USA, hört auf, den Krieg in der Ukraine zu finanzieren", war auf einem zu lesen, das ein Mann mit Bart und Mütze hochhielt.

Seltsam: Am 5. März beteiligte sich der gleiche junge Mann in Paris an einer anderen Kundgebung, die nun im Gegenteil die Position Kiews einzunehmen schien. "Erdoğan, das Erdbeben ist der Preis für den Empfang russischer Touristen", stand spöttisch auf einem Spruchband, das sich als ukrainisch ausgab. Dazu zeigte der Mann den Hitlergruß, wie später auf sozialen Medien wie Tiktok oder VKontakte (die russische Variante von Facebook) zu sehen war. Die verquere Botschaft lautete: Die Nazi-Ukrainer freuen sich über das Erdbeben in der Türkei, weil deren Präsident im Krieg Russland nahesteht.

All das: purer Fake. Kreiert, inszeniert und manipuliert von Handlangern des russischen Geheimdienstes. Ihre Absicht war es offensichtlich, die Ukraine anzuschwärzen, aber auch die westliche Front gegen das Putin-Regime zu spalten und konkret die Aufnahme Schwedens in die Nato zu hintertreiben.

Spiel mit Spannungen

Dies belegen Dokumente des russischen Geheimdiensts, die das Rechercheteam Dossier Center des Oppositionellen Michail Chodorkowski am Montag europäischen Medien zugespielt hat. Le Monde bildete ein übersetztes Papier des russischen Geheimdiensts ab, der sich darin zum Ziel setzte, "die undankbare und provokante Reaktion der Ukraine auf die Tragödie in der Türkei (Erdbeben) aufzuzeigen".

Generell würden die Russen versuchen, eine "destruktive NaziNatur proukrainischer Aktivisten hervorzuheben". Die Spannungen zwischen der Türkei und Schweden sollen verschärft werden, damit Ankara an seinem Veto gegen die Nato-Aufnahme Stockholms festhält.

Solche Art von Desinformation, die laut dem russischen Präsidenten Wladimir Putin der "hybriden Kriegführung" gegen den Westen dient, wird nicht zum ersten Mal aufgedeckt. Die nun von Chodorkowski enthüllten Machenschaften führen vor Augen, wie zielgerichtet die russischen Meinungsmanipulatoren vorgehen. Die nur Minuten dauernde Lügenoperation mit dem Hitlergruß erreichte laut Le Monde immerhin 100.000 User.

Das französische Blatt schränkt zwar ein, dass die Aktion in der anvisierten türkischen Diaspora in Frankreich nur 82 Kommentare ausgelöst habe, und darunter seien wohl auch russische "Bots". Informatiker geben allerdings zu bedenken, dass sich diese Internetlinks beliebig vervielfachen ließen, um einen Masseneffekt auszulösen.

Inszenierungen wie diejenige in Paris – andere gab es laut Chodorkowskis Dossier Center auch in Madrid, Brüssel und Den Haag – seien zudem sehr billig zu produzieren. Die beiden Operationen in Paris seien laut Le Monde von Aymen H., einem Algerier, aufgezogen worden. Er studiere seit 2019 in Sankt Petersburg und suche über das Internet Mitwirkende, denen er ein Honorar von 100 Euro verspreche – ob sie nun gegen westliche Waffenlieferungen an die Ukraine anzutreten oder deren Standpunkte vorzugaukeln hatten. (Stefan Brändle aus Paris, 8.5.2023)