Wie war das mit dem Elternsein und Kinderhaben in grauer Vorzeit, aus der wir nur Knochenstücke und Steinbeile haben, keine Schrift, keine Erzählungen? Die Prähistorikerin Katharina Rebay-Salisbury geht der Sache am Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie der Uni Wien auf den Grund. Wir treffen uns im Naturhistorischen Museum zu einem Gespräch mit ihrer Kollegin Karina Grömer, Abteilungsdirektorin der Prähistorischen Abteilung im Naturhistorischen Museum. Ihr Fach ist die Textilarchäologie: Sie weiß unter anderem, seit wann sich der Mensch anzieht und wie man das nachweisen kann (Kleiderläuse!).

Karina Grömer und Katharina Rebay-Salisbury (v. li.) untersuchen das frühere Leben.
Foto: Regine Hendrich

Menschliche Knochen haben inzwischen weniger Geheimnisse als früher: Dank DNA-Analyse und Isotopenanalyse lässt sich bestimmen, wo und wie Menschen aufgewachsen sind. Zahnzementanalysen lassen auf das Sterbealter schließen. Strontium-Isotopen-Analysen zeigen, wer woher kommt.

Gräberfelder lassen sich analysieren – wer war mit wem verwandt oder nicht? "Frauen haben sehr häufig sogenannte fremde Signale, haben also vermutlich in eine Gemeinschaft eingeheiratet, sind durch Wanderungen und Handelsbeziehungen in andere Gemeinschaften migriert. Eine gewisse Mobilität war gerade in der Urgeschichte sehr häufig weiblich", erklärt Rebay-Salisbury. Nix da also mit der Reinheit der Völker: "Davon kann in Mitteleuropa sowieso nie die Rede sein", sagt Karina Grömer. Rebay-Salisbury erwähnt die beiden Einwanderungswellen in der frühen Jungsteinzeit und im dritten Jahrtausend vor Christus, die sich genetisch nachweisen lassen.

Chanel der Hallstattzeit

Wie recherchiert man diese Geschichten aus einer Zeit ganz ohne Überlieferung? "Man kann sich das vorstellen wie einen Kriminalfall, wie eine CSI-Geschichte. Man hat Puzzlesteinchen, ein paar Fasern, Steingeräte. Das alles gilt es zusammenzufügen, um ein größeres Bild zu entwickeln", so Grömer. Forscherinnen und Forscher bringen ihre Fragestellungen mit: "Bei mir ist es zum Beispiel, wie sich Menschen durch ihre Kleidung, durch ihr Äußeres, durch ihren Schmuck identifiziert haben und was sie damit nonverbal kommuniziert haben."

Doch Fasern und Farbstoffe erzählen mehr als das: Durch die Genetik von Wollresten erfährt man vom Herdenmanagement anderswo, Textilien etwa kamen bereits vor 2.600 Jahren aus ganz Europa. "Schon in der Hallstattzeit hat man sich Farbschildläuse besorgt, die es definitiv bei uns nicht gibt, um purpurfarbene Kleidung herzustellen", sagt Grömer, "Stoffe wurden mit Gold verziert, das waren hochpreisige Technologien, quasi Chanel oder Dior von anno dazumal."

Auch Kinderskelette erzählen Geheimnisse, diese erforscht Rebay-Salisbury: Wo sind sie begraben und warum? Um richtig zu deuten, wer wie gestorben ist, wendet man sich an die Leute vom Fach: "Wir haben viel mit Gerichtsmedizinern zu tun, um diese postmortalen Prozesse zu verstehen", erklärt Grömer.

Karina Grömer geht der Frage nach, wie sich Menschen durch ihre Kleidung, durch ihr Äußeres, durch ihren Schmuck identifiziert haben und was sie damit nonverbal kommuniziert haben.
Foto: Regine Hendrich

Wie ist das mit der Mutterschaft? "In der Literatur und in der öffentlichen Meinung ist eine große Diskrepanz zwischen ‚Damals sind eh alle Frauen gestorben bei der Geburt‘ und ‚Damals war alles so super und natürlich‘", bemängelt Prähistorikerin Rebay-Salisbury. Die Wahrheit liegt in der Mitte: "Man kann davon ausgehen, dass etwa um die zehn Prozent der Frauen zu dieser Zeit an den Folgen von Schwangerschaft und Geburt gestorben sind." Romantisierendes Gerede von der Natürlichkeit der Geburt kann Archäologin Rebay-Salisbury gut mit "einem Ordner voller Babybestattungen" widerlegen.

Das Schwein im Totenhemd

Für den Nachweis der Thesen braucht es Experimente, etwa jenes mit dem Schwein, das Forschungsfragen zum Gräberfeld Inzersdorf ob der Traisen mit seinen 300 Bestatteten in Urnen beantworten soll. 1300 bis 1200 vor Christi ging man von der Körperbestattung zur Leichenverbrennung über, hat die Toten verbrannt und in Urnen bestattet. Der darin befindliche Leichenbrand ist ein gutes Forschungsmaterial: "Man kann noch sehr viel daraus aussagen, zum Beispiel Krankheitsmarker finden", sagt Rebay-Salisbury begeistert. Anhand des Prozentsatzes von fremden Frauen oder Männern kann erforscht werden, ob die Brandbestattung lokal entwickelt oder von Eingewanderten mitgebracht wurde.

Die experimentelle Archäologie kann offene Fragen beantworten: Wie viel Holz hat es gebraucht für einen Scheiterhaufen? Warum sind kleine Bronze-Buckelchen, eine Art Knöpfchen, manchmal mehr verschmort, mal weniger? Wie lange hat das Ritual gedauert? Hier kommt dann das Schwein zum Einsatz, natürlich verstorben in einem Mastbetrieb. Das Tier wird in ein handgewebtes Totenhemd eingewickelt, dazu kommt Eigenhaar der Forschenden in Haarspiralen, alles für die Forschung. Neun Stunden dauert es, bis der Scheiterhaufen inklusive Schwein verbrennt. Die verbrannten Teile lassen Rückschlüsse auf den archäologischen Fund zu.

1300–1200 v. Chr.

Gibt es große Unterschiede zwischen den Menschen damals und heute? "Religion und Ritual, der Versuch, die unerklärliche Welt zu beeinflussen, waren ein wesentlicherer Bestandteil im Alltag", sagt Rebay-Salisbury. Aber unsere Vorfahrinnen und Vorfahren waren keine patscherten Primitiven. Ihre Kulturtechniken beeinflussten sogar die Evolution: "Durch die gekochte Nahrung ist die Gehirnentwicklung überhaupt erst möglich gewesen."

Die Experimental-Archäologinnen wünschen sich ein realistischeres Bild unserer Vorfahren.
Foto: Regine Hendrich

Und womöglich auch durch die Erfindung des Babytragetuchs, das allerdings im Gegensatz zu Steinklingen, sogenannten Erhaltungsartefakten, nicht über die Jahrtausende erhalten blieb. Das Tragetuch wird eine der frühesten Erfindungen der Menschheit gewesen sein, denn ohne Fell konnten sich die Babys nirgendwo anhalten – und Eltern hatten auch in präindustriellen Gesellschaften noch ein oder zwei andere Dinge zu erledigen. Dass die Männer Mammuts jagten und die Mütter allein bei den Kindern blieben, sei unwahrscheinlich. "Die Arbeitskraft der Frau im besten Alter war nicht verzichtbar", sagt Rebay-Salisbury.

Geschlechterfragen

Auch andere Themen finden sich damals genauso wieder wie heute: Rebay-Salisbury erforscht auch geschlechterspezifische Bestattungen in der Frühbronzezeit. Die waren für Männer und Frauen tatsächlich unterschiedlich: Frauen auf der rechten Seite liegend, mit dem Kopf nach Süden – und Männer auf der linken Seite mit dem Kopf nach Norden. Und doch gibt es auch hier Abweichungen – Menschen, die nicht entsprechend ihres biologischen Geschlechts bestattet wurden, wie man dank neuer Forschungsmethoden leichter nachweisen kann. Sie lässt den Schluss zu, dass es wohl auch damals schon Transpersonen gab.

Übrigens starben damals entgegen früheren Annahmen nicht alle Menschen mit 30 – wer einmal mehr als 20 Jahre lebte, konnte durchaus 50 werden, sagt Rebay-Salisbury. Und "früher war der Mensch nicht so primitiv, wie man das landläufig mit prähistorischen Menschen verknüpft", sagt Grömer. Sie wünscht sich ein realistischeres Bild unserer Vorfahren: "Man soll ihnen bitte mehr zutrauen!" (Julia Pühringer, 10.5.2023)