Ein MRI-Scan eines "normalen" Gehirns. Bei Vergleichen von fast 8.000 solcher Bilder zeigten sich Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit und bestimmten Hirnunterschieden.

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Es ist schon wieder ein paar Jahre her, dass Bücher über die Unterschiede von männlichen und weiblichen Gehirnen boomten. Die US-amerikanische Neurowissenschafterin Louann Brizendine löste vor knapp zwei Jahrzehnten mit Büchern wie "Das weibliche Gehirn: Warum Frauen anders sind als Männer" einen regelrechten Boom aus, angeborene Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht mehr in nur in den Hormonen oder den Genen zu suchen, sondern im Gehirn.

Solche Ansätze übersahen aber erstens, dass Gehirne eine enorme Plastizität aufweisen und ihre Entwicklung zweitens stark von Umweltfaktoren abhängt. In Ländern, wo die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern größer ist, haben Frauen beispielsweise ein höheres Risiko, neurologisch zu erkranken, also etwa früher unter Demenz zu leiden. Letzteres zeigte sich beispielsweise in China, wo Frauen auch stärker von den Risikofaktoren Bewegungsmangel und Analphabetismus betroffen sind.

Fast 8.000 Magnetresonanzbilder

Wie ein internationales Forscherteam um Nicolas Crossley (Pontificia Universidad Católica de Chile) nun behauptet, lassen sich die Folgen starker sozialer Unterschiede zwischen den Geschlechtern auch an stärkeren Unterschieden in den Gehirnen festmachen. Diesen Schluss würde die vergleichende Auswertung von fast 8.000 Magnetresonanzbildern menschlicher Gehirne aus 29 Ländern zulassen, schreiben Crossley und sein Team im Fachblatt "PNAS".

Laut diesen Analysen waren in Ländern mit weitgehender Gleichstellung der Geschlechter (gemessen unter anderem am Gender Inequality Index) so gut wie keine Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen zu beobachten. In Ländern mit größerer Ungleichheit war jedoch die Dicke der rechten Seite der Großhirnrinde bei Frauen geringer.

Schwer belegbare Zusammenhänge

Doch taugt dieser Befund tatsächlich als Beweis, dass sich soziale Ungleichheit sogar in den Gehirnen zeigt? Die Autorinnen und Autoren selbst gestehen gewisse Unsicherheiten der Interpretation ein, liefern immerhin mögliche Hypothesen zur Erklärung ihrer Beobachtungen. So werden jene Regionen des Kortex, bei denen die Unterschiede festgestellt wurden, mit Widerstandsfähigkeit gegenüber Widrigkeiten assoziiert. Beobachtet wurde auch, dass diese Regionen bei (posttraumatischem) Stress oder Depressionen dünner werden.

Obwohl die Forschenden keinen kausalen Zusammenhang herstellen, hoffen sie doch, mit ihren Ergebnissen Argumente für politische Maßnahmen zur Verringerung der Ungleichheit zu liefern.

Dazu befragte Kolleginnen und Kollegen, die nicht an der Studie beteiligt waren, äußern sich eher zurückhaltend. So etwa meinte die Neurowissenschafterin María Ruz (Universität Granada) gegenüber der spanischen Tageszeitung "El País", dass die Korrelation zwischen einer geringeren Kortexdicke und Erfahrungen körperlicher Gewalt nur sehr schwer zu belegen sei. Und Zweifel wird auch angemeldet, ob dokumentierte Unterschiede in den Gehirnen tatsächlich ein stärkeres "politisches" Argument liefern.

Unterstützung durch US-Studie

Indirekte Unterstützung bekommt die neue Untersuchung aber durch eine rezente Studie aus den USA. Forschende um David Weissman (Harvard University) werteten dafür die Daten der Adolescent Brain Cognitive Development Study (ABCD-Studie) aus, konkret: von mehr als 10.000 Jugendlichen aus 17 Bundesstaaten, die sich in ihren Lebenshaltungskosten und ihrer Politik zur Armutsbekämpfung unterscheiden.

Erste Analysen der ABCD-Daten hatte ergeben, dass Kinder aus Familien mit geringerem Einkommen im Vergleich zu Kindern aus Familien mit höherem Einkommen ein geringeres Volumen des Hippocampus aufweisen, der eine entscheidende Rolle für das Gedächtnis und das emotionale Lernen spielt.

Bei weiteren Auswertungen, deren Ergebnisse Anfang Mai im Fachblatt "Nature Communications" erschienen, zeigte sich nun, dass bei Kindern zwischen neun und elf Jahren die Unterschiede in der Gehirnentwicklung und der psychischen Gesundheit in jenen Bundesstaaten deutlich geringer waren, die ein stärkeres soziales Sicherheitsnetz bieten und geringere sozioökonomische Unterschiede aufweisen. (tasch, 13.5.2023)