Das neue Referenzgenom bildet die weltweit vorkommenden Varianten besser ab.
Bild: Darryl Leja, NHGRI

Krebs basiert auf unkontrollierten Mutationen im Erbgut. Wollen Forschende heute herausfinden, warum sich die Erkrankung bei einer Patientin entwickelt hat, können sie das Genom von Tumorzellen entschlüsseln und mit dem menschlichen Referenzgenom vergleichen. Letzteres geht auf Analysen zurück, die 2001 publiziert wurden. Obwohl die Daten verbessert wurden und vor einem Jahr ein Forschungsprojekt einige Lücken schließen konnte, kann das Genom eines einzelnen Menschen kaum die Diversität unserer Spezies darstellen.

Das ändert sich nun mit dem Pangenom – das, wie die Vorsilbe verrät, alle Varianten abbilden will, oder zumindest in wesentlich größerem Umfang. Dieser Aufgabe hat sich ein internationales Team verschrieben, das Human Pangenome Reference Consortium (HPRC). Am Mittwoch veröffentlichte es im Fachjournal "Nature" den ersten wichtigen Meilenstein, nämlich die erste Version eines neuen Referenzgenoms.

Katalog für genetisches Mosaik

Dafür entschlüsselten die Fachleute die vollständige DNA von 47 anonymen Personen aus aller Welt. Im Gegensatz zu früheren Analysen wurde nicht nur ein Chromosom jedes Typs sequenziert, sondern der gesamte Chromosomensatz, den die Menschen von beiden Elternteilen vererbt bekommen haben.

"Ein Genom ist wie ein Mosaik, das aus der Entfernung ein Gesamtbild ergibt", sagt Bioinformatiker Siegfried Schloissnig vom Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien, der selbst nicht an der Studie beteiligt war. Einige Steinchen des Mosaiks ließen sich durch ähnliche Steinchen ersetzen und liefern denselben Gesamteindruck, andere wiederum seien alternativlos. Das Pangenom liefere einen entsprechenden Vergleichskatalog.

Optisch erinnert die Pangenom-Grafik an einen U-Bahn-Plan. In manchen Bereichen kann eine Sequenz eine andere Route nehmen und sich dadurch zwischen Individuen unterscheiden.
Bild: Darryl Leja, NHGRI

Repräsentative DNA

Die Daten der 47 Menschen, die den ersten Entwurf darstellen, bilden mehr als 99 Prozent der Genome ab, mit einer Genauigkeit von mehr als 99 Prozent. Insgesamt will das Team Genomdaten von 350 Personen einbinden, die aus unterschiedlichen Regionen der Welt stammen. Die Zahl scheint angesichts acht Milliarden Menschen auf dem Planeten gering, doch so lasse sich bereits ein großer Teil menschlicher Diversität abbilden, sagt Schloissnig.

National Human Genome Research Institute

Bestimmte Regionen wie Ozeanien sind dadurch allerdings noch kaum repräsentiert. Auch in Zukunft gibt es also weitere Lücken zu schließen. Hinzu kommt, dass nicht allein das ererbte Genom die Entstehung von Krankheiten beeinflusst. Umweltfaktoren verändern beispielsweise, welche Gene abgelesen werden.

Junk-DNA analysieren

Dennoch stellt das Pangenom-Projekt einen großen und wichtigen Schritt für die genetische Forschung dar. Zwei Anwendungsbeispiele wurden gleichzeitig mit der Studie veröffentlicht. Sie demonstrieren, dass sich Bereiche der DNA besser analysieren und vergleichen lassen, in denen sich Sequenzen sehr oft wiederholen. Damit lässt sich die sogenannte Junk-DNA, die einen Großteil des Genoms ausmacht und nicht für Proteine codiert, besser erforschen, sagt der am Projekt beteiligte Erich Jarvis von der New Yorker Rockefeller University auf STANDARD-Nachfrage.

Nachweis eines unbekannten Genaustauschs

Außerdem wurde erstmals ein Genaustausch nachgewiesen, der bisher nur vermutet werden konnte: Die sogenannte heterologe Rekombination gibt es wirklich. Das bedeutet, dass bei der Zellteilung DNA-Fragmente nicht ausschließlich zwischen zwei Chromosomen mit derselben Nummer (einem homologen Paar) getauscht werden. Dies findet manchmal zwischen den winzigen Ärmchen verschiedenartiger (heterologer) Chromosomen statt.

Vom frei verfügbaren Pangenom "dürften sowohl der öffentliche als auch der private Sektor mit Firmen wie '23 and me' oder 'Ancestry' profitieren", sagt Jarvis. Er erforscht die Sprachfähigkeiten von Menschen und Menschenaffen und hofft, die genetischen Grundlagen des großen Unterschieds zu ergründen. Auch in der personalisierten Medizin ließen sich die Wurzeln einiger Krankheiten besser verstehen. Das könnte in Zukunft etwa helfen, Krebs individuell besser zu behandeln. (Julia Sica, 10.5.2023)