Obwohl Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu fünf Jahre älter ist als der autoritäre Präsident Recep Tayyip Erdoğan, fliegen ihm die Herzen der Jugend zu.

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Es könnte eng werden für Amtsinhaber Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

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Auf einem Video, das über Tiktok in die Welt gesendet wird, ist eine junge Frau zu sehen, die Werbung für Schminkprodukte macht. Sie hat tausende Followerinnen und Follower, die meisten davon mutmaßlich ebenfalls junge Frauen. Mit Politik hatte sie nie etwas zu tun. Doch an diesem Tag, zwei Tage vor der alles entscheidenden Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei, erläutert sie ihrem Publikum, wie sie sich am Wahltag schminken wird.

Sie legt deutliches Rot auf ihre Wangen, die Farbe der Opposition, und im Augenwinkel malt sie das Parteiemblem der oppositionellen CHP, sechs Pfeile, die die traditionellen Ziele der CHP symbolisieren sollen. Dann fügt sie noch einen Pfeil dazu: "Für die Freiheit der Frauen." Tatsächlich haben viele, vor allem junge Frauen, Angst um ihre Zukunft und um ihre Freiheit, sollte Präsident Recep Tayyip Erdoğan noch einmal gewinnen.

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"Freies Land" versprochen

Ihr Video auf Tiktok ist kostenlose Werbung für die Opposition und zeigt, wie sehr ein großer Teil der Jugend sich Veränderung wünscht – und weitere Jahre unter Erdoğan fürchtet.

Unter den Erst- und Jungwählerinnen und -wählern im Land, so viel ist selbst bei der unsicheren Datenlage der Demoskopen völlig klar, kann Erdoğan auf nur wenig Unterstützung hoffen. Mehrmals hat sich der Präsidentschaftskandidat der Opposition, Kemal Kılıçdaroğlu, über soziale Medien an die jungen Leute gewandt und ihnen ein "freies Land" versprochen, wenn sie Erdoğan abwählen.

Hunderttausende bei "Opa"

"Demokrat Dede" will der 74-Jährige scherzhaft genannt werden, Opa der Demokratie, und viele Leute nehmen ihm diesen selbst gewählten Spitznamen auch ab. Anders als bei den Wahlkampfauftritten Erdoğans sind bei der Opposition sehr viele junge Leute zu sehen. Da der Altersdurchschnitt in der Türkei immer noch bei rund 30 Jahren liegt, ist dies ein wichtiger Indikator für den Wahlausgang am kommenden Sonntag.

Insgesamt lief der Wahlkampf für die Opposition fast besser als erhofft. Selbst in Städten, in denen die AKP seit Jahren dominiert, waren die Veranstaltungen Kılıçdaroğlus überlaufen. Und während die Leute zu ihm freiwillig und oft unter großen Mühen kamen, wandte die Regierung erhebliche Mittel und politischen Druck auf ihre bisherigen Anhängerinnen und Anhänger an, um die Stadien und Plätze für Erdoğan voll zu bekommen.

Ungewisser Wahlausgang

Das war auch bei den beiden größten Veranstaltungen der Kandidaten am letzten Wochenende in Istanbul zu sehen. Während hunderttausende Menschen am Samstag zur Wahlveranstaltung der Opposition kamen – obwohl die Regierung alles tat, um eine Teilnahme zu erschweren, etwa indem sie die Metro-Verbindung unterbrach –, brauchte sie am Sonntag für die eigene Veranstaltung 10.000 städtische Busse, die quasi beschlagnahmt wurden, um den alten Flughafen zu füllen.

Trotzdem ist der Wahlausgang nach wie vor ungewiss. Das liegt nicht nur an der wenig verlässlichen Demoskopie, sondern auch daran, dass die Regierung die Wahlen manipulieren könnte, wie viele befürchten. Deshalb hat die Opposition ein nie dagewesenes Großaufgebot an Wahlbeobachterinnen und -beobachtern mobilisiert, die möglichst an jeder Urne, an der abgestimmt wird, präsent sein sollen.

Parteienvertreterinnen und unabhängige Beobachter kontrollieren gemeinsam mit den staatlichen Wahlorganen den Urnengang, zählen anschließend die abgegebenen Stimmen, und jedes Urnenergebnis wird von einem Wahlbeamten und zwei Parteienvertretern unterschrieben. Anschließend gibt es für alle Beobachter einen Kontrollzettel, der sofort fotografiert und zu den einzelnen Parteizentralen geschickt wird, die dann neben den offiziellen Wahlbehörden die Chance haben, die Ergebnisse mitzuzählen.

Unsichere Wahlen

Raum für Manipulationen wird es aber gleichwohl geben, vor allem in den kurdischen Gebieten, wo manche Urnen aus – angeblichen – Sicherheitsgründen in Kasernen aufgestellt werden, im Erdbebengebiet, wo die Wählerlisten nicht mehr gesichert sind, und in einigen Gebieten in Zentralanatolien, wo die Opposition so schwach ist, dass sie nicht überall aufpassen kann.

"Alles hängt davon ab", sagte Mustafa Yeneroğlu, ein führendes Mitglied der oppositionellen Deva-Partei, die im Bündnis mit der CHP antritt, dem STANDARD, "ob wir bei der Präsidentschaftswahl im ersten Wahlgang gewinnen." Sollte das nicht der Fall sein, werden die kommenden zwei Wochen bis zur Stichwahl am 28. Mai "sehr schwierig".

İnce zieht sich zurück

Am Donnerstag folgte schließlich noch eine gute Nachricht für "Demokrat Dede": Muharrem İnce, der 2018 schon einmal gegen Erdoğan verloren hatte, gab seinen Rückzug bekannt. İnces Antreten hatte im Kılıçdaroğlu-Lager die Sorge ausgelöst, er könnte Stimmen abziehen. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 12.5.2023)