Am Donnerstag klebten sich Aktivistinnen und Aktivisten wieder in Wien fest. Am Tag zuvor war eine Rettung am Verteilerkreis im Rahmen einer Aktion im Stau gesteckt.

Foto: APA/EVA MANHART

Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese Vorwürfe aufkommen würden: In Deutschland hatten Berichte über verspätete Rettungsfahrzeuge – und die fatalen Folgen – im Zuge von Klimaprotesten bereits für viel Furore, sogar Ermittlungen, gesorgt. Nun ist es auch in Österreich so weit: Am Mittwoch führten Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation am Verteilerkreis im zehnten Wiener Bezirk eine Protestaktion durch. Der Stau, der sich bildete, führte dazu, dass ein Rettungswagen im Einsatz für mehrere Minuten nicht vom Fleck kam. Der Patient verstarb.

Über die Frage, ob sein Tod darauf zurückzuführen ist, dass die Rettung zu spät kam, ist nun eine hitzige Debatte entbrannt. An vorderster Front wetterte am Donnerstag Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) gegen die Letzte Generation. "Bewegt euch im Rahmen unseres Rechtsstaats", richtete sie ihnen aus. Sie selbst habe schon vor Monaten vor so einem Szenario gewarnt.

Was dem tragischen Vorfall zusätzliche Brisanz verleiht: Die Polizei hielt fest, dass die Aktivisten die Fahrspur erst nach polizeilicher Intervention räumten. Eine Darstellung, die die Letzte Generation seither zurückweist. Doch was ist am Mittwoch in Wien-Favoriten tatsächlich geschehen? Der Versuch einer Rekonstruktion von zwei Seiten.

Die Blaulichtperspektive

Es ist Mittwoch, kurz vor acht Uhr. Bei der Wiener Berufsrettung geht ein Notruf ein. Unmittelbar danach folgt ein Notruf bei den Kollegen in Niederösterreich – ein übliches Prozedere im Grenzgebiet, wie es von der Wiener Berufsrettung heißt. Ein Mann, etwa 70 Jahre alt, hat in Schwechat einen Herzstillstand erlitten. Die Rettungen machen sich auf den Weg. Weit kommen die Wiener aber nicht. Knapp 250 Meter vor der Blockade beim Verteilerkreis kommt das Fahrzeug auf der Grenzackerstraße wegen des Staus zum Stehen – trotz Blaulicht und Horn. Mehrere Minuten vergehen.

Zwei Aktionen gab es am gestrigen Mittwoch, am Praterstern und beim Verteilerkreis. (drittes Bild)

Zu diesem Zeitpunkt kommt es zu den von der Polizei erwähnten "Interventionen". Man habe die Polizei "gebraucht, um durchzukommen", bestätigte die Sprecherin der Berufsrettung dem STANDARD. Wo genau, wurde zunächst nicht präzisiert. Der Vorwurf, die Klimaaktivisten hätten absichtlich weiter blockiert, steht im Raum.

Die Sicht der Aktivisten

Perspektivenwechsel: Am Verteilerkreis geht um kurz nach acht Uhr das Gehupe los. Ein paar Aktivisten kleben auf dem Zebrastreifen der dreispurigen Straße, der mittlere Fahrstreifen bleibt kleberfrei. "Wir haben weder einen Rettungswagen gesehen noch gehört", sagt ein Aktivist am Donnerstag dem STANDARD. Erst später sei ein Rettungswagen über die Straße bei der U-Bahn-Station Altes Landgut an ihnen vorbeigerast. Anweisungen, den Platz wegen eines Notfalls zu räumen, habe es laut Letzter Generation aber nicht gegeben. "Sobald uns jemand sagt, dass eine Rettung durchmuss, machen wir sofort die Rettungsgasse frei", sagt ein Sprecher. Ein Fehler sei ihnen aber passiert; sie hatten vergessen, der Rettung ihren Standort mitzuteilen.

In Niederösterreich treffen beinahe zeitgleich die Rettungskräfte ein. Es ist 8.15 Uhr. Eine Stunde lang, heißt es vom Roten Kreuz, versuchen sie den Mann zu reanimieren. Um 9.15 Uhr wird er für tot erklärt.

Der Tag danach

Am Donnerstag ergänzt die Polizei ihre Version – und relativiert: Es könne durchaus sein, dass die Aktivisten den Wagen wegen der Distanz nicht gesehen hätten. Auch sei die Polizei nicht auf sie zugegangen. Denn: "Die festgeklebten Personen hätten gar nicht schnell genug entfernt werden können." Außerdem sei es "nicht zielführend, Fahrzeuge am mittleren Fahrstreifen durchzulotsen", sagt die Polizeisprecherin.

Doch wie schaut es mit der Rettungsgasse aus? Auf Nachfrage heißt es, dass sich nichts mehr bewegt habe. Eine Rettungsgasse konnte erst auf Anweisung der Polizei erfolgen. "Die Kollegen vor Ort haben angefangen, die Autos am Rand einzuweisen, sodass das Vorbeifahren der Rettung ermöglicht wurde."

Ob die Aktivisten sich nun strafrechtlich verantworten müssen, hängt vor allem an der Frage der Kausalität, also ob die Verzögerung tatsächlich eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Mannes bewirkt hat. Dieser Nachweis dürfte in der Praxis allerdings schwierig zu erbringen sein – zumal auch die anderen Rettungskräfte bereits unterwegs waren. Letztlich würden wohl medizinische oder Verkehrsgutachten Aufschluss darüber geben. (Elisa Tomaselli, 11.5.2023)