Europa oder Asien? Westen oder Orient? Geografisch ist die Frage eindeutig zu beantworten: sowohl als auch. Die westlichen Teile des Landes diesseits des Bosporus und der Dardanellen gehören zum europäischen Kontinent, während der weitaus größere Teil des Staates der vorderasiatischen Region zuzuordnen ist.

Recep Tayyip Erdoğan sprach bei einer Wahlveranstaltung Anfang Mai vor hunderttausenden Anhängern.
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Weltpolitische Ausrichtung

Zweigeteilt wie die Geografie ist auch die politische Ausrichtung: Einerseits versteht sich die Türkei – zumindest themen- und phasenweise – als Teil des Westens, was sogar dazu führte, dass die Türkei seit 1999 EU-Beitrittskandidat ist; doch Fortschritte in diese Richtung gab es seit Jahren nicht mehr, was durchaus im momentanen Interesse beider Seiten ist.

Auch sicherheitspolitisch ist die Zuordnung nicht so eindeutig, wie die Papierform glauben machen würde. Zwar ist die Türkei seit 1952 Mitglied der Nato – sie agiert aber immer wieder im Widerspruch zu deren Interessen. In Sachen Nahostpolitik und Ukrainekrieg nimmt das Land zudem eine Sonderstellung ein, die es Präsident Recep Tayyip Erdoğan erlaubt, sich als globaler Player zu inszenieren.

Bei der Migrationspolitik ist die EU stark von der Türkei abhängig, gilt sie doch als von Brüssel gesponsertes Auffangbecken für Millionen von Migrantinnen und Migranten aus dem nah- und mittelöstlichen Raum.

Staatsform

Als Republik besteht die Türkei seit dem Jahr 1923. Der Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs ist kemalistisch ausgeprägt, folgt also der Gründungsideologie von Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938), die auf Prinzipien wie dem des Republikanismus, des Laizismus und des Etatismus basiert.

Die maßgebliche Partei zur Umsetzung der kemalistischen Politik war und ist die Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), die sich seit den 1960er-Jahren als sozialdemokratisch versteht. Ihr Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu war im Wahlkampf 2023 gleichzeitig auch der Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan von der Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP), die den Kemalismus relativiert und eine Reislamisierung des Landes propagiert.

Zwei Jahrzehnte lang galt die Macht von Recep Tayyip Erdoğan als unantastbar...
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Präsidialsystem

Die seit 1982 geltende Verfassung der Türkei (parlamentarische Demokratie mit einer unabhängigen Justiz, Regierung durch einen Ministerrat, angeführt von einem Ministerpräsidenten) wurde nach Referenden 2010 und 2017 umfassend umgebaut; das parlamentarische System mit einem weitgehend repräsentativen Präsidentenamt wurde sukzessive in ein Präsidialsystem umgewandelt, in dem der Ministerrat als oberstes Exekutivorgan abgeschafft wurde.

Die Spitze der Exekutive bildet nunmehr der direkt gewählte und mit Sonderrechten ausgestattete Präsident – und Erdoğan nutzte diese mit zuletzt immer deutlicheren autoritären Zügen. In die Transitionszeit fiel im Sommer 2016 ein Putschversuch gegen Erdoğan, die Folge war ein zwei Jahre langer Ausnahmezustand. Nicht erst seit dieser Zeit steht die Türkei international immer wieder in der Kritik, wenn es um die Lage der Menschenrechte und der Pressefreiheit geht.

Wirtschaft

Nach 20 Jahren an der Macht hatte Präsident Erdoğan zuletzt immer weniger Argumente, die teils desaströse Lage der türkischen Wirtschaft zu erklären. In Sachen Kaufkraft ist das Land laut Weltbank zwar relativ weit vorn mit dabei, allerdings weist die Türkei gleichzeitig eines der weltweit höchsten Leistungsbilanzdefizite auf. Schon vor der Corona-Pandemie waren die Inflationszahlen alarmierend, die Auslandsverschuldung steigt stetig. Problematisch ist auch die hohe Arbeitslosigkeit, vor allem bei den Jungen.

... erst im Frühjahr 2023 betrat mit Kemal Kılıçdaroğlu ein ernstzunehmender Konkurrent die Wahlkampfbühne.
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Generationenfrage

In den 100 Jahren seit der Republiksgründung hat die Bevölkerungszahl von 13 auf rund 85 Millionen zugenommen, Istanbul verzehnfachte seine Einwohnerzahl in 50 Jahren auf rund 16 Millionen. Im Schnitt wird die Bevölkerung immer jünger und liberaler. Erdoğans konservative, religiös verbrämte Politik verfängt heute bei den Jungen und Urbanen nicht mehr so gut wie noch vor 20 Jahren bei deren Eltern. Dieser Generationenkonflikt wurde spätestens bei den Gezi-Protesten 2013 augenscheinlich. (Gianluca Wallisch, 14.5.2023)