"Wir stehen hier in der Mitte des Dorfes", sagt Nemi Ashkar und zeigt auf ein Gestrüpp aus Dornengewächsen, Disteln und vereinzelten Bäumen. "Und dort drüben, auf dem Hügel, nur zweieinhalb Stunden Fußmarsch entfernt, ist schon der Libanon."

Einst der Dorfplatz eines palästinensischen Dorfes mit christlichen Einwohnern: der Platz vor der Kirche von Iqrit.
Foto: Maria Sterkl

Nemi Ashkar, ein christlicher Palästinenser aus Israel, ist 62 Jahre alt – doch er erzählt von längst vergangenen Zeiten, als hätte er sie selbst miterlebt. Auf eine Weise hat er das auch: nämlich in den Geschichten, die er wieder und wieder von seinen Eltern und den Dorfältesten erzählt bekam. "Bis 1918 konnten die Leute aus dem Libanon kommen und wieder gehen, niemand hat sie dabei gestört", sagt Nemi Ashkar. Heute ist der Libanon Feindesland, getrennt durch eine scharf bewachte Grenze.

Iqrit ist ein Dorf, das es nicht mehr gibt. Es ist aber auch eine Dorfgemeinschaft, die lebendiger ist als viele andere, deren Mitglieder noch in ihren Häusern leben dürfen. In Iqrit gibt es keine Häuser mehr. Nur eine Kirche, einen Friedhof und viele, viele Steinbrocken, die nur leise erahnen lassen, was hier einmal war.

Leben in den 1930er-Jahren

"Meine Familie lebte in diesem Haus", sagt Ashkar und zeigt auf ein Foto des Dorfes aus den 1930er-Jahren, während er einer Gruppe jüdischer Israelis die Geschichte von Iqrit erzählt. Man sieht ein stolzes Dorf, das an einen sanft ansteigenden Hang gebaut ist, auf dessen Höhepunkt eine kleine Kirche steht. Damals lebten hier knapp 500 Menschen. Sie pflanzten Tabak, Bohnen und Oliven an, lebten von kleinteiliger Schaf- und Rinderzucht. In die Schule von Iqrit kamen auch Kinder aus benachbarten palästinensischen Dörfern, die es wie Iqrit heute nicht mehr gibt.

Im Oktober 1948 kamen israelische Soldaten. "Alles war ganz friedlich", sagt Ashkar. Eine Woche später kam einer der Kommandanten der Brigade zurück und verkündete den Dorfbewohnern, sie würden vorübergehend umgesiedelt. "Er sagte, in zwei Wochen könnten wir wieder zurückkehren", erzählt Ashkar. Die Familien packten ihre Sachen und wurden auf Lastwägen in ein rund 20 Kilometer entferntes Dorf gebracht. Aus zwei Wochen sind inzwischen 75 Jahre geworden.

Bis 1948 lebten in Iqrit rund 500 Menschen. Heute steht nur noch die Kirche (historische Aufnahme).
Foto: Maria Sterkl

Rund 500 palästinensische Dörfer wurden rund um die Staatsgründung Israels und im Unabhängigkeitskrieg 1948 durch die israelische Armee evakuiert. Palästinenser nennen es Nakba – "Katastrophe" – und gedenken dieser jedes Jahr am 15. Mai. Doch eines unterscheidet Iqrit – und mit ihm das nahegelegene Bir'am – von den anderen Dörfern: Die Familien erhielten das Recht, in ihre Häuser zurückzukehren. Zuerst 1948, aus dem Mund eines Armeeoffiziers. Und dann noch einmal, von höchster Stelle – dem Obersten Gerichtshof in Jerusalem. Er entschied 1951, dass die Regierung den vertriebenen Bewohnern von Iqrit die Rückkehr in ihre Häuser ermöglichen soll.

Tragödie 1951

Die Regierung ignorierte das. Die Militärbasis, die inzwischen auf dem Gelände von Iqrit errichtet worden war, wurde nicht geräumt. "Wer sich ihr näherte, auf den wurde geschossen", so zitiert Nemi seine Vorfahren.

Am 24. Dezember 1951 geschah dann die Tragödie. Während die Familien von Iqrit fern von zu Hause das Weihnachtsfest feierten, machte die Armee das Dorf dem Erdboden gleich. Nur die Kirche und der Friedhof blieben unversehrt. Immer noch hatten die Bewohner von Iqrit die gerichtliche Erlaubnis, in ihre Häuser zurückzukehren. Doch diese Häuser gab es nun nicht mehr.

"Wir haben bis heute nicht verstanden, wer das damals entschieden hat – die Armee oder die Regierung", sagt Nemi. Wenn er "wir" sagt, meint er jene Nachkommen der Familien aus Iqrit, die bis heute um ihre Rückkehr kämpfen. Inzwischen sind es rund 1.700 Personen, die zwar in Haifa und auf andere Städte in Nordisrael verteilt leben, sich aber weiterhin als Gemeinde von Iqrit verstehen. An jedem Monatsanfang feiern sie ihre Messe in der Kirche von Iqrit, begehen hier Ostern und Weihnachten – die Kirche ist auch 75 Jahre nach der Vertreibung sozialer Treffpunkt.

Im Lauf der Jahrzehnte haben die Familien aus Iqrit viel Ausdauer bewiesen. Sie demonstrierten vor dem Haus des Ministerpräsidenten, machten Druck im Parlament. Immer wieder standen sie knapp vor einem Durchbruch. Dann brachten Wendepunkte in Israels Geschichte auch das Projekt Iqrit zu Fall. So etwa im Jahr 1995, als der sozialdemokratische Ministerpräsident Yitzhak Rabin den Bewohnern von Iqrit garantierte, das Dorf mit staatlicher Hilfe wiederaufzubauen. Konkrete Schritte waren vereinbart worden, es fehlte nur noch die Umsetzung. Dann feuerte ein Rechtsradikaler tödliche Schüsse auf Rabin ab.

"Die Zeit ist unser Gegner"

Als der Rechtskonservative Benjamin Netanjahu an die Macht gewählt wurde, legte er das Projekt Iqrit auf Eis. Auch heute regiert Netanjahu. "Die Zeit ist unser Gegner", sagt Amira Ashkar, Nemis Frau, mit der er 30 Autominuten entfernt von Iqrit ein kleines Weingut betreibt.

Dorf mit Geschichte, aber wohl ohne Zukunft.
Foto: Maria Sterkl

Dabei gäbe es viele Israelis, die gar nichts einzuwenden hätten gegen eine Rückkehr der Palästinenser nach Iqrit. Einer von ihnen ist der 72-jährige Arnon. Er lebt nur wenige Kilometer von der Kirche von Iqrit entfernt und feiert jedes Jahr Ostern und Weihnachten mit der Gemeinde, obwohl er jüdisch ist. "Mein Vater war einer der Offiziere, die 1948 den Leuten aus Iqrit versprochen haben, dass sie in zwei Wochen zurückkehren können", erzählt Arnon. Sein Leben lang hätten den Vater deswegen Schuldgefühle geplagt. "Immer wieder hat er gesagt: Sie haben mich gezwungen zu lügen."

Angst vor den Arabern

Dahinter stand eine politisch-strategische Entscheidung, meint der Historiker Benny Morris: Israel wollte das Gebiet nahe der libanesischen Grenze möglichst frei von arabischen Siedlungen halten. Man befürchtete Allianzen mit dem Feind.

Heute, an einem sonnigen Samstagvormittag im Mai, ist das Innere der Kirche von Iqrit mit Blumen und weißen Schleifen geschmückt: die Überreste einer Hochzeitsfeier am Tag davor. Eine israelische Besucherin fragt, was geschähe, sollte der Staat den Familien von Iqrit und ihren Nachkommen schon morgen die Rückkehr erlauben. "Wie viele würden dann auch wirklich hierher ziehen?" Ohne zu zögern sagt Amira Ashkar: "Alle. Ausnahmslos alle." (Maria Sterkl, 16.5.2023)