So wie im Lager der Gegnerinnen und Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist auch bei dem österreichischen Politologen Cengiz Günay am Tag nach der Wahl Ernüchterung eingetreten. In Istanbul, wo er die erste Runde der türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahl verfolgt hat, sei zwar eine starke Aufbruchsstimmung zu vernehmen gewesen. Aber "der Optimismus war wohl übertrieben", sagt er im Gespräch mit dem STANDARD.

STANDARD: Ist das Rennen schon gelaufen für Kemal Kılıçdaroğlu?

Günay: Das ist schwer abzuschätzen, die Ausgangslage für den zweiten Wahlgang ist aber nicht günstig. Das Ergebnis ist bei weitem nicht so ausgefallen, wie es in Umfragen vorhergesehen war. Bei vielen, die so stark auf einen Wandel gehofft haben, ist nun ein wenig die Luft draußen. Das könnte nun zu einem großen Problem werden, weil Kılıçdaroğlu jetzt natürlich noch einmal stark mobilisieren müsste, um zu gewinnen.

STANDARD: Was müsste Kılıçdaroğlu jetzt tun, um doch noch zu gewinnen?

Günay: Die große Unbekannte ist, wie die Wählerinnen und Wähler von Sinan Oğan, dem nationalistischen dritten Kandidaten, in der Stichwahl abstimmen werden. Vieles deutet darauf hin, dass Erdoğan nun das Thema Kurden stärker betonen wird. Kılıçdaroğlu muss nun einen schwierigen Balanceakt hinlegen, weil er einerseits die kurdischen Stimmen unbedingt behalten, gleichzeitig aber einen Großteil der Stimmen für Oğan an sich ziehen muss, der keinerlei Zugeständnisse an die Kurden machen will. Außerdem muss er auch aus dem Regierungslager Wähler auf seine Seite bringen. Die größte Gefahr ist aber, dass die Kılıçdaroğlu-Anhänger nun nicht mehr wählen gehen, weil sie demotiviert sind.

Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, hier auf der Fahne links zu sehen, gilt als populär.
Foto: Yasin AKGUL / AFP

STANDARD: War Kılıçdaroğlu der richtige Kandidat?

Günay: Ich glaube, dass der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu der bessere Kandidat gewesen wäre, weil er ein echter Massenmagnet ist. Gegen ihn war aber ein Gerichtsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung anhängig, weshalb man in der Opposition die Sorge hatte, er könnte aus dem Rennen gezogen werden. Ich denke, dass man das hätte riskieren sollen, das Ergebnis wäre dann vermutlich besser gewesen.

STANDARD: Was erwarten Sie sich von den kommenden zwei Wochen?

Günay: Ich rechne nicht mit Unruhen oder großen Protesten, dafür war der Wahltag am Sonntag eigentlich zu ruhig. Zu befürchten ist aber eine weitere Polarisierung der Gesellschaft, die Regierung wird noch stärker auf Nationalismus setzen und wieder und wieder auf die Unterstützung Kılıçdaroğlus durch die prokurdische HDP hinweisen. Dass diese erfolgreich für Kılıçdaroğlu mobilisiert hat, ist nun natürlich Wasser auf die Mühlen der Regierung.

Politologe Günay: "Eine Stimme gegen Erdoğan bedeutet für viele einen Verrat am türkischen Staat."

STANDARD: Haben Sie Unregelmäßigkeiten festgestellt?

Günay: Es gab, anders als früher, insgesamt so gut wie keine Vorfälle, nicht einmal die Opposition hat Unregelmäßigkeiten im großen Stil beklagt. Das System funktioniert auch anders, weil Erdoğan und die Regierung das Land und die Medien umfassend dominieren. Das beginnt mit der unfairen Taktik, dass am Wahltag erst einmal die Gegenden ausgezählt werden, die pro Erdoğan sind, was dazu führt, dass die Opposition demoralisiert wird.

STANDARD: Wie erklären Sie sich den Erfolg Erdoğans in den Erdbebengebieten?

Name: Die Kritik an dem Katastrophenmanagement ist interessanterweise mehr aus den weit entfernten Großstädten gekommen als aus den betroffenen Gebieten selbst. Diese waren zum Teil schon vorher AKP-Hochburgen und bleiben es auch weiterhin. Man muss aber bedenken, dass wir es mit keiner normalen Wahl zu tun haben, sondern mit einem Urnengang, der zwar frei, aber kaum fair war.

STANDARD: Warum verfängt Erdoğans Botschaft offenbar auch nach zwanzig Jahren?

Günay: Einerseits ist er ein guter Rhetoriker, der den islamischen Konservativismus mit dem türkischen Nationalismus verbindet. Weil er so auch Kurden anspricht, verfügt er über einen großen Manöverraum. Vor allem aber hat Erdoğan es geschafft, durch die Gleichschaltung der Medien sich selbst mit dem Staat gleichzustellen. Eine Stimme gegen ihn bedeutet für viele einen Verrat am türkischen Staat. Das hat man besonders nach dem Erdbeben gesehen. (Florian Niederndorfer, 16.5.2023)