Um 1900 erlebte die Ansichtskarte ihren absoluten Höhepunkt als Massenmedium und begehrtes Sammlerobjekt. Die Bildchen (hier das Riesenrad 1920) gab es in allen erdenklichen Varianten – gemalt, fotografiert und gerne auch retuschiert.

Foto: Wien Museum

An den Ufern der ewig untergehenden Stadt Venedig oder im weihrauchumwehten Mariazell mag sie sich noch immer in vollster Kitschpracht behaupten; in den meisten touristischen Zentren dieses Planeten aber ist ihre große Zeit vorbei: Die Rede ist von der guten alten Ansichtskarte – dem ersten Bildmedium für die Masse, dem Instagram der Jahrhundertwende.

Wien galt um 1900 wie in so vielen Belangen auch in diesem Metier als weltmeisterlich. Das zeigt nun die Ausstellung Großstadt im Kleinformat – Die Wiener Ansichtskarte, zu sehenim Musa des Wien-Museums.

In gewisser Weise kann das tratschfreudige Wien, wo um 1900 bis zu fünfmal täglich die Post ausgetragen wurde, sogar behaupten, die Wiege der Ansichtskarte zu sein: Ihr Vorläufer, die "Correspondenzkarte", wurde nämlich dank der hiesigen Verordnungswut 1869 erstmalig Standardisiert in Österreich-Ungarn eingeführt.

Foto: Wien Museum

Zunächst waren darauf neben Text kleine Werbeanzeigen abgebildet, bald aber wurden die Motive üppiger, man zeigte jetzt stolz ganze Firmengebäude und schließlich Sehenswürdigkeiten, zugunsten derer der Textteil auf die Rückseite verbannt wurde. Die Postwege hatten sich internationalisiert, der Tourismus nahm zu und mit ihm eine ganze Souvenirindustrie.

War die Ansichtskarte zunächst noch stark an der Vedutenmalerei orientiert, beschleunigten neue Druckverfahren und vor allem die Erfindung der Fotografie ihren Siegeszug als Massenmedium. Unzählige Verlage entstanden, die die Karten in allen Varianten herstellten, die Stadt war übersät mit tausenden Verkaufsständen. "Gruß aus Wien", gepaart mit einem feinsäuberlich von Hand kolorierten Motiv, wurde zum geflügelten Wort.

Foto: Wien Museum

Tricksen und Grüßen

Schon damals wurde auch ganz schön getrickst: Bildmanipulation, Retusche und Nachbearbeitung ähnlich unserer heutigen Handy-Fotofilter waren business as usual, hungrig nach neuen Motiven nahm man bald sogar die Vorstädte und Alltagsszenen in den Blick. Ansichtskarten konnten aber auch Träger politischer Botschaften sein: "Gruß aus der deutschen Stadt Wien", richtet etwa ein Ritter mit schwarz-rot-goldener Flagge auf einer Karte von 1900 aus.

Dass sich zeitweise der junge Hitler als gescheiterter Künstler mit dem Malen von Ansichtsbildchen durchschlug, verschweigt die Ausstellung, nicht aber, dass der von ihm entfesselte Weltkrieg den bunten Motiven für lange Zeit den Garaus machte. Erst ab den 1960er-Jahren kehrte die Farbigkeit zurück.

Die Ausstellung zeigt schön, wie sehr bereits damals Qualitätskämpfe tobten: Kunstvolle Karten der Wiener Werkstätte konkurrierten mit billiger Massenware. Ein Highlight ist ein liebevoll verzierter K.-u.-k.-Postkasten, der zeigt, wie viel Wert auf Design selbst bei den alltäglichen Dingen gelegt wurde.

Kein harmloses Spielzeug

Am unterhaltsamsten ist übrigens nicht so sehr, was auf den Ansichtskarten geschrieben stand, sondern, was über sie geschrieben wurde: "Der Wahnsinn der illustrierten Postkarten hat sich wie die Grippe vom Kontinent auf die Inseln ausgebreitet, wo sie mit großer Heftigkeit wütet", stellte 1899 der Standard (nicht dieser, sondern jener aus London) fest.

Außerdem habe die Ansichtskarte zu jener Zeit "längst aufgehört, das harmlose Spielzeug zu sein, das sie noch vor einigen Jahren war, sie ist heute ein Bedürfnis geworden, das aus der Schnelllebigkeit unserer Zeit resultiert". Schon um 1900 hatten Social Media also ihre Kehrseite. (Stefan Weiss, 18.5.2023)