Im November 2011 servierte Jewgeni Prigoschin dem damaligen Ministerpräsidenten Wladimir Putin in einem seiner Restaurants das Essen. Ob er ihm mehr als zwölf Jahre später weiterhin so ergeben ist?

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Niemand darf in Russland ungestraft derart über die Militärführung herziehen wie er: Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnertruppe Wagner, die in der Ukraine an vorderster Front kämpft. Ausgerechnet am 9. Mai, dem Tag des Sieges über die Nazis im Zweiten Weltkrieg, veröffentlichte er seinen jüngsten Wutanfall, fabulierte von einem "Großvater", der ein "komplettes Arschloch" sei, der glaube, alles sei in Ordnung, und dennoch Russland an die Wand fahre.

Wen hat Prigoschin, der wegen seiner einstigen Catering-Dienste auch als "Putins Koch" bekannt ist, gemeint? Etwa Russlands 70-jährigen Präsidenten höchstpersönlich, wie viele westliche Medien spekulierten?

Mitnichten, erklärt der Wagner-Chef auf Telegram und nennt drei Optionen. "Option Nummer eins ist Misinzew, der gefeuert wurde, weil er uns Munition gegeben hat. Jetzt ist er nicht mehr in der Lage, uns noch mehr zu geben", so Prigoschin. Gemeint ist Michail Misinzew, der geschasste stellvertretende Verteidigungsminister. Zum weiteren möglichen "Großvater" erklärt Prigoschin Waleri Gerassimow, den russischen Generalstabschef, mit dem er im Dauerclinch liegt. Auch diese Option ist also keine Überraschung.

Zweifelhafter Humor

Option Nummer drei allerdings überrascht – und ist vielleicht ein Ausdruck von Prigoschins speziellem Humor, den er auch schon einmal "Kriegshumor" nannte. Option Nummer drei ist nämlich Natalia Khim, in Russland ein Reality-TV-Star, eine Frau, die jetzt angeblich im Donbass kämpft. Nun könne man sich aussuchen, wen er gemeint habe, so der Wagner-Chef.

Neuestes Gerücht: Prigoschin soll der ukrainischen Regierung angeboten haben, die Positionen russischer Truppen preiszugeben, falls sich die Ukrainer aus der Region um Bachmut zurückziehen. Das berichtet die US-Zeitung "Washington Post" unter Berufung auf Dokumente des US-Geheimdienstes. Die Ukraine habe das Angebot aber abgelehnt.

Prigoschin habe sich mit Vertretern des ukrainischen Militärgeheimdienstes in einem afrikanischen Land getroffen. Nachdem er zunächst ironisch ein Treffen mit dem Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes bestätigt hatte, dementierte Prigoschin. "Ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich spätestens seit Ausbruch des Konflikts nicht mehr in Afrika war, eigentlich sogar schon ein paar Monate vor Beginn der ‚militärischen Spezialoperation‘ nicht mehr", sagte er auf dem Telegram-Kanal seines Pressedienstes.

"Neugierige Köpfe"

Über die Recherche der "Washington Post" machte sich Prigoschin offensichtlich lustig. "Liebe neugierige Köpfe, sozusagen angehende Journalisten, von der "Washington Post", es gibt Dinge, die Sie nicht wissen müssen, es geht um den Austausch. Natürlich findet in jedem Krieg ein Austausch statt, und das ist kein Geheimnis für die kriegführenden Parteien. Aber die Kameraden Journalisten der "Washington Post" müssen das überhaupt nicht wissen."

Dass Jewgeni Prigoschin seit Monaten hemmungslos die russische Militärführung vorführen darf, ihnen gar Fahnenflucht rund um das schwer umkämpfte Bachmut vorwerfen kann, liegt wohl auch daran, dass seine Wagner-Söldner oft die "Drecksarbeit" für die russische Armee übernehmen. Viele seiner Kämpfer hat der 61-Jährige in russischen Gefängnissen rekrutiert, indem er ihnen Amnestie versprochen hat – falls sie den Kriegseinsatz überleben. Dass man bei Wagner nicht zimperlich mit angeblichen Verrätern umgeht, belegen mehrere Videos von Gräueltaten an den eigenen Männern.

Politische Ambitionen

Aber was ist das Ziel Prigoschins? Strebt er auch politische Macht an? Will er vielleicht sogar bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr gegen Putin antreten? Er selbst hat das stets – und ernsthaft – dementiert.

Politischen Einfluss will Prigoschin womöglich trotzdem. Gemäß Recherchen des Kreml-kritischen Mediums "Meduza" arbeitet er eng mit Sergej Mironow zusammen, dem Parteivorsitzenden der Kreml-nahen Partei Gerechtes Russland. In einem Interview bestätigt Mironow die engen Kontakte zu Prigoschin, sagt aber auch: "Es gibt keine Vereinbarungen, keine gemeinsamen politischen Projekte zwischen uns – überhaupt nichts." (Jo Angerer aus Moskau, 17.5.2023)