Noch ist das Konterfei von Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu in den türkischen Städten – wie hier in Ankara – zu sehen. Vor der Stichwahl am 28. Mai herrscht in seinem Lager aber wenig Optimismus.

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Zwei Tage nach den Parlaments- und Präsidentenwahlen herrscht bei den Anhängern des türkischen Oppositionsbündnisses tiefe Frustration. Obwohl der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit erreichte und Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu eine Stichwahl am 28. Mai erzwingen konnte, sagen etliche Wähler und Wählerinnen, die Kılıçdaroğlu in der ersten Runde unterstützt hatten, sie wüssten noch nicht, ob sie in der zweiten Runde noch einmal ihre Stimme abgeben. Viele haben die Hoffnung verloren, dass Kılıçdaroğlu in der Stichwahl Erdoğan besiegen kann.

Bislang haben die Führungspersonen aus dem oppositionellen Sechserbündnis nicht viel unternommen, um ihre Anhängerschaft noch einmal zum Wählen zu motivieren. Nach einer letzten gemeinsamen Stellungnahme noch in der Wahlnacht, bei der Kılıçdaroğlu betont hatte, man werde auf jeden Fall in der zweiten Runde gewinnen, ist der Herausforderer bislang nur auf Twitter aufgetaucht. Dort wandte er sich vor allem an junge Wähler und drückte sein Bedauern aus, dass es nicht bereits in der ersten Runde zu einem Sieg gereicht habe.

Festnahmen vor der Wahl

Auch das linke Bündnis von Yeşil Sol und TİP, in dem die kurdische HDP der entscheidende Faktor ist, leckt erst einmal seine Wunden. Man habe sein Wahlziel klar verfehlt, verkündete die HDP-Führung, man werde daher die Wahl kritisch analysieren. Gleichzeitig verweist die HDP aber auch noch einmal auf die Hindernisse, die die Regierung ihr in den Weg gelegt hat.

Etliche Verhaftungen und Festnahmen in den Wochen vor der Wahl oder der Verbotsprozess gegen die HDP, der die Partei kurz vor dem Urnengang dazu gezwungen hat, unter dem Banner von Yeşil Sol anzutreten, hätten dazu beigetragen, dass die Ergebnisse bei den Parlamentswahlen so schlecht gewesen seien.

Nicht genügend Belege

Die Partei wies dann noch darauf hin, dass es auch bei der Zählung am Wahlabend Unregelmäßigkeiten gegeben habe. So seien Stimmen für Yeşil Sol in Diyarbakır von der Wahlbehörde der rechtsradikalen MHP zugeschlagen worden. Auch die CHP hatte schon am Sonntagabend immer wieder darauf verwiesen, dass die Wahlbehörde Stimmen für Kılıçdaroğlu unter den Tisch fallen lassen würde. Sie war aber letztlich nicht dazu in der Lage, dafür auch Belege vorzulegen, die für einen Einspruch bei der Wahlbehörde gereicht hätten.

Unbestätigten Berichten aus der CHP-Parteizentrale zufolge soll das daran gelegen haben, dass die gesamte IT der Parteizentrale in der Wahlnacht durch Hackerangriffe aus Russland lahmgelegt worden sei. Schon einige Tage vor den Wahlen hatte Kılıçdaroğlu in einem Tweet die russische Regierung dazu aufgefordert, sich aus den Wahlen in der Türkei herauszuhalten, und mit Konsequenzen gedroht.

Rücktritt bei der CHP

Da trotz der Befürchtungen eines russischen Hackerangriffs dieser offenbar nicht verhindert werden konnte, trat noch am Montag der stellvertretende CHP-Vorsitzende Onursal Adıgüzel, der für die IT-Abteilung verantwortlich war, von seinem Posten zurück.

Eine weitere Konsequenz aus dem Wahldebakel soll nun sein, dass für die Stichwahl die Organisation des Wahlkampfes und des Wahlabends von dem Istanbuler Erfolgsteam Ekrem İmamoğlu und Canan Kaftancıoğlu übernommen werden soll, die zusammen den Sieg bei den Kommunalwahlen 2019 organisiert hatten. Offensichtlich muss sich die CHP erst neu aufstellen, bevor sie in die zweite Runde starten kann.

Aktienkurse im Sturzflug

Die Reaktion auf den Finanzmärkten zeigt aber schon jetzt, dass auch bei Investoren und Banken kaum noch jemand mit einem Sieg der Opposition rechnet. Schon am Montag gingen die Aktienkurse türkischer Banken in den Keller – sie verloren bis zu zehn Prozent.

Investoren hatten gehofft, eine neue Regierung würde das Land mit einer international abgestimmten Wirtschafts- und Finanzpolitik wieder auf einen Erfolgskurs bringen. Auch die Europäische Entwicklungsbank in London senkte am Dienstag die Wachstumsprognose für die Türkei. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 16.5.2023)