Präparat eines echten Gehirns. In der NS-Zeit fertigen Hirnforscher hunderte solcher Präparate mit den Hirnen von NS-Opfern an.

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Sein Fall ist und bleibt ein Schandfleck der österreichischen Nachkriegsgeschichte. Der Psychiater Heinrich Gross war von 1940 bis 1945 tief in das "Euthanasie"-Programm" der Nazis verstrickt, dem insgesamt mehr als 200.000 Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen zum Opfer fielen. Am Spiegelgrund in Wien, wo Gross tätig war, wurden mindestens 789 behinderte Kinder während des Zweiten Weltkriegs ermordet, und viele ihrer Gehirne wurden als Präparate konserviert. Gross spielte dabei eine zentrale Rolle.

1950 wurde das ehemalige NSDAP-Mitglied der Ortsgruppe Flötzersteig zwar wegen Beihilfe zum Totschlag zu zwei Jahren Haft verurteilt. Doch das Urteil wurde wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben; zudem hatte Gross zwei Jahre Untersuchungshaft abgesessen. Seiner Nachkriegskarriere stand damit nichts mehr im Weg. Nachdem er 1953 dem Bund Sozialistischer Akademiker (BSA) beigetreten war, durfte er wenig später sogar an seine ehemalige Arbeits- und Mordstätte zurückkehren.

Forschung an Hirnen von NS-Opfern

Damit konnte er wieder an jenen Hirnpräparaten forschen, die von ermordeten Kindern am Spiegelgrund stammten, die nun Baumgartner Höhe hieß. Bis 1978 erschienen insgesamt 34 Arbeiten, für die er sich dieses mehr als problematischen Materials bediente. 1959 erhielt er für diese Forschungen sogar den Theodor-Körner-Preis. Immerhin wurde ihm die Habilitation verwehrt, da man in Kollegenkreisen von seiner Verstrickung in die NS-"Euthanasie"-Morde und die Herkunft der Präparate zumindest ahnte. Quasi als Ersatz für die universitäre Karriere wurde Gross zum meistbeschäftigten Gerichtspsychiater des Landes und erhielt 1975 das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse.

Erst in den frühen 1980er-Jahren gab es durch die Initiative "Kritische Medizin" öffentliche Kritik an Gross, der prompt klagte und erstinstanzlich sogar recht bekam. Immerhin schloss ihn damals die SPÖ aus ihren Reihen aus. Als die Justiz Ende der 1990er-Jahre dann endlich wirklich versuchte, Gross für seine Beteiligung an den Morden zur Rechenschaft zu ziehen, war es – zumindest laut einem Gutachten, das fortschreitende Altersdemenz konstatierte – zu spät. Wenigstens nahm die SPÖ den Fall Gross zum Anlass, als erste österreichische Partei die NS-Verstrickungen insbesondere der Mitglieder ihrer Akademikerorganisation aufzuarbeiten.

Beisetzung der Präparate

Gross starb 2005 mit 90 Jahren. Immerhin hat ihm der Staat das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst I. Klasse noch vor seinem Tod aberkannt. Und die Hirnpräparate jener Kinder, an deren Ermordung er beteiligt gewesen war, wurden im April 2002 in einem feierlichen Staatsakt auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt – als "eine Art der Schuldabtragung", wie es der damalige Vizebürgermeister Sepp Rieder (SPÖ) formulierte.

Heinrich Gross war im deutschsprachigen Raum nicht der einzige Mediziner und Wissenschafter, der nach 1945 an Hirnpräparaten forschte, die von Opfern der NS-"Euthanasie" stammten. "Aber er war wohl jener, der besonders unmittelbar in die Tötungen involviert war", sagt Herwig Czech, Professor für Medizingeschichte an der Medizinischen Universität Wien.

Unbewältigtes Kapitel in Deutschland

Czech hat nicht nur eingehend über den Fall Gross und die Morde am Spiegelgrund geforscht. Er ist seit mehreren Jahren auch einer der Leiter eines großen, von der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) finanzierten Projekts, das sich mit der deutschen Hirnforschung im Nationalsozialismus, ihren problematischen Präparaten und deren Schicksal nach 1945 befasst. Denn auch Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), der Vorläuferorganisation der MPG, waren mit dem Sammeln von Hirnen befasst, die von Opfern der NS-"Euthanasie" sowie aus weiteren Unrechtskontexten stammten. Und an zwei MPG-Instituten wurde daran nach 1945 geforscht.

In Frankfurt am Main gelagerte Präparate, die ursprünglich aus den Sammlungen von Julius Hallervorden aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin stammen.

Dieses dunkle Kapitel der deutschen Medizin- und Wissenschaftsgeschichte galt lange als einigermaßen abgeschlossen: Nach den Pionierarbeiten des deutschen Historikers und Journalisten Götz Aly in den 1980er-Jahren, der deutsche Kollaborationen zwischen NS-"Euthanasie" und Hirnforschung aufdeckte, wurden im Jahr 1990 aus der NS-Zeit stammende Hirnpräparate aus den wissenschaftlichen Sammlungen der Max-Planck-Institute (MPI) für Hirnforschung (Frankfurt am Main) und für Psychiatrie (München) im Waldfriedhof bei München beigesetzt. Die Bestattung der Überreste dieser auch noch nach ihrem Tod ausgebeuteten NS-Opfer gilt heute als der einzige angemessene Umgang mit den Präparaten.

Neue Funde, neues Projekt

Doch damit war die Geschichte noch lange nicht zu Ende. Denn 2016 entdeckten Historiker am MPI für Psychiatrie in München dutzende weitere NS-Hirnpräparate, die 1990 augenscheinlich nicht beerdigt worden waren. Aus diesem Grund ermöglichte die MPG ein Jahr später jenes große Forschungsprojekt, an dem auch die Med-Uni Wien unter der Projektleitung Czechs beteiligt ist. Ziel ist es, die Herkunft und die Verwendungen dieser Hirnschnitte aus der NS-Zeit sowie die Politik der MPG in diesem Zusammenhang systematisch zu dokumentieren.

Einige der grundlegenden Zusammenhänge sind bereits länger bekannt. So war das wichtigste Bindeglied zwischen dem Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Hirnforschung und dem "Euthanasie"-Programm der Nazis, das unter dem Namen "Aktion T4" lief, die psychiatrische Landesanstalt Brandenburg-Görden, wie Czech erklärt: "Hier war auch Heinrich Gross als Tötungsarzt der ,Kindereuthanasie‘ ausgebildet worden, ehe 1941 in Wien die Zahl der getöteten Kinder sprunghaft anstieg."

Obsessives Sammeln, wenig Ertrag

Ging man vor den neuen Nachforschungen davon aus, dass rund 700 Gehirne von NS-"Euthanasie"-Opfern für Forschungszwecke am KWI unter der damaligen Leitung von Hugo Spatz und Julius Hallervorden landeten, so konnten Czech und sein Team bis Ende 2022 Präparate von rund 200 weiteren NS-Opfern identifizieren. Eine weitere Arbeitsgruppe des MPG-Projekts um den Medizinhistoriker Paul Weindling (Oxford Brookes University) entdeckte zudem Präparate, die von polnisch-jüdischen NS-Opfern stammten.

Mikroskoppräparat eines Schnittes durch ein menschliches Kleinhirn mit einer Schnittdicke von 20 Mikrometern. Durch die Färbung des Schnittes erscheinen die Faserverbindungen im Gehirn (weiße Substanz) schwarz, während die Nervenzellschichten (graue Substanz) ungefärbt sind.

"Der Forschungsertrag dieser obsessiven Sammlungstätigkeit der KWG-Hirnforscher in der NS-Zeit war unter dem Strich bescheiden", sagt Czech. Zwar sei auch nach dem Krieg daran weitergeforscht worden, zumal es bei Medizinern wie Julius Hallervorden, die nach dem Krieg nahezu unbehelligt weiterarbeiten konnten, diesbezüglich kein Unrechtsbewusstsein gegeben habe. "Aber in Deutschland war man im Vergleich zu Gross bei den Publikationen, die auf diesen Präparaten beruhten, offenbar zurückhaltender."

Die Hirne der Knaben Kutschke

Zu den Hirnschnitten der KWG, die 1990 noch nicht bestattet worden waren (sondern erst 2003), zählten auch jene von zwei Brüdern und einem Cousin, die zwischen 1942 und 1944 in der Landesanstalt Görden mit einer seltenen Erbkrankheit "verstarben". Zehn Jahre später forschte der österreichische Neuropathologe Franz Seitelberger an diesen drei Gehirnen der mutmaßlich ermordeten "Knaben Kutschke" bei Julius Hallervorden und konnte sich damit habilitieren, wie Herwig Czech erläutert. Die von ihm anhand dieser Präparate erstmals beschriebene "infantile Neuroaxonale Dystrophie" galt in Fachkreisen lange auch als Seitelberger-Krankheit.

Anders als Gross konnte das ehemalige NSDAP- und SS-Mitglied Seitelberger, der nicht an Tötungsaktionen beteiligt gewesen war, trotz seiner NS-Vergangenheit und trotz der Forschung an problematischen Präparaten universitäre Karriere machen: Der Mediziner war in den 1970er-Jahren Dekan, Prorektor sowie für zwei Jahre Rektor an der Universität Wien und leitete von 1970 bis 1990 das Institut für Hirnforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. (Klaus Taschwer, 20.5.2023)