Geschulte Polizistinnen und Polizisten versuchen Straftäter an Mimik, hektischen Bewegungen oder verdächtiger Kleidung zu erkennen – zum Beispiel auf Flughäfen. Das öffnet allerdings auch Raum für Fehlschlüsse und falsche Vorurteile.

Foto: Getty Images / Stockphoto / stnazkul

Zwei Männer betreten die Lobby eines Hotels, beide ohne Gepäck. Einer setzt sich auf das Sofa vor der Rezeption. Der andere geht schnurstracks auf den Rezeptionisten zu. Er scheint ihn etwas zu fragen. Während sich ein angeregtes Gespräch zwischen den beiden entwickelt, steht der zweite Mann plötzlich auf und verlässt in schnellem Schritt die Hotelhalle. Diesmal allerdings mit Gepäck: Er hat die auf dem Sofa liegende Tasche eines anderen Hotelgasts gestohlen, während der Rezeptionist von seinem Komplizen abgelenkt war.

"Ein aufmerksamer Beobachter hätte hier im Voraus erkennen können, dass der Mann etwas im Schilde führt", sagt Martin Litscher, während er die Szene aus der Überwachungskamera zurückspult und mit einem Laserpointer auf den Dieb zeigt. "Denn Gäste gehen nach dem Betreten eines Hotels entweder direkt zur Rezeption oder zum Lift. Alles andere ist schon einmal verdächtig." Litscher ist Kantonspolizist in der Schweizer Metropole Zürich und Ausbildner an der nationalen Polizeiakademie. Seit bald 15 Jahren ist er dort auf Verbrechensprävention durch das Beobachten von Menschen spezialisiert. "Wir achten sehr genau auf Körpersprache und Mimik", sagt der erfahrene Beamte, "auf Anzeichen von Nervosität, hastige Bewegungen und plötzliche Richtungswechsel beim Gehen."

Israel als Vorreiter

Diese Art der präventiven Polizeiarbeit, häufig mit dem englischen Begriff "Behaviour Detection" benannt, geht auf Ermittlungsmethoden der Flughafensicherheit zurück, Vorreiter war Israel. Am Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv versuchte man schon früh, Terroristen an auffälligen Verhaltensweisen zu erkennen, bevor sie einen Anschlag begehen konnten. Verdächtige wurden danach mit systematischer Befragungstechnik einvernommen, um etwaige Lügen zu erkennen.

Die Erkenntnisse der israelischen Beamten wurden bald auch an anderen großen Drehkreuzen des Luftverkehrs angewandt, etwa am Flughafen Charles de Gaulle in Paris und in mehreren US-Metropolen. Und sie sickerten in die Ermittlungsarbeit anderer Polizeieinheiten ein. 2009 startete die Exekutive in Zürich in Kooperation mit der dortigen Universität das Forschungsprojekt ASPECT (Analysing Suspicious Persons and Cognitive Training), dessen Trainingsprogramm Polizist Litscher seit fünf Jahren leitet. Eingesetzt werden dafür vor allem Ermittlerinnen und Ermittler, die – so wie Litscher selbst – Erfahrung in den Bereichen Rotlicht- und Drogenkriminalität haben.

Psychologische Modelle

Einblicke in die Schweizer Arbeitstechniken gab der Polizist am Mittwoch auch seinen österreichischen Kolleginnen und Kollegen und diversen Vertretern der Sicherheitsbranche auf der jährlichen Konferenz des Verbands Akademischer Sicherheitsberater Österreichs (VASBÖ) in Wien. "Als Beamte haben wir ein Bauchgefühl", sagt Litscher. Und bei allen, die im Bereich Straßenkriminalität arbeiten, sei es besonders ausgeprägt.

In der Einschätzung von Situationen, von verdächtigen Personen, von möglicherweise bevorstehenden Delikten hätten die Ermittler immer schon vieles richtig gemacht, sagt der Polizist. "Aber wir wussten nicht, warum." Die Psychologinnen und Psychologen der Uni Zürich konnten es dann auch wissenschaftlich erklären – und daraus Modelle für Schulungen der Exekutive ableiten. Die übergeordnete Frage: "Wie kann ich einen Täter erkennen, bevor er das Verbrechen begeht?"

Noch kein Projekt in Österreich

Die Erkenntnisse aus dem Schweizer Projekt sind auch für die heimische Polizeiarbeit relevant. Aus dem Innenministerium heißt es auf STANDARD-Nachfrage allerdings, dass es aktuell keine vergleichbaren Trainings- und Schulungsprogramme für die heimische Polizei gebe. Derzeit seien solche auch nicht geplant.

Grundlagen psychologischer Einschätzungsarbeit werden allerdings in verschiedenen Dienstbereichen angewandt – wenn auch nicht annähernd so strukturiert wie bei den Schweizer Kollegen. So beobachten etwa österreichische Verbindungsbeamte in mehreren Ländern die Passkontrollen beim Boarding an Flughäfen. Sie sollen dabei auf Fluggäste aufmerksam werden, die potenziell mit gefälschten Dokumenten reisen.

Verdächtige Füße

Bei seinem Vortrag in Wien zeigt Litscher etliche Beispiele von Videomaterial aus Überwachungskameras, von Flughäfen und Hotellobbys, Restaurants und Kaffeehäusern. In jeder Phase einer Tat – davor, währenddessen und danach – unterscheide sich das Verhalten von Straftätern vom Verhalten der übrigen Bevölkerung, sagt der Ermittler. "Wer kommt üblicherweise an einen Flughafen? In erster Linie Geschäftsreisende und Touristen." Beide Gruppen erkenne man im Normalfall schnell. "Der Geschäftsreisende hat meist nur leichtes Gepäck, oft eine Laptoptasche", sagt Litscher. Und: In der Regel geht er zielgerichtet, nur selten mit suchendem Blick. "Zweimal die Woche Wien – Zürich und zurück. Der weiß schon, wo er hin muss."

Wer in bunter Freizeitkleidung mit großem Koffer nach der Gepäckabgabe suche, sei vermutlich Urlauber. Wer dagegen am Flughafen gar kein Gepäck trage, falle zunächst einmal auf. Erst recht, wenn die Person offenbar ohne klares Ziel herumschlendere – das sei generell ein Zeichen, genauer hinzusehen. "Wir achten auch sehr genau auf die Füße", erzählt Litscher. "Denn die verraten oft als erstes, was der Kopf denkt." Auch die Nervosität potenzieller Täter lasse sich daran meist ablesen. Allerdings: Je erfahrener und professioneller Kriminelle agieren, desto weniger verräterische Anzeichen strahlen sie aus.

Raum für Fehleinschätzungen

Ebenfalls verdächtig: Unsichere Körperhaltung, die auf Stress hindeutet; plötzliche Tempoänderungen beim Gehen; und Kleidung, die nicht passt – ob zur Person und ihrer Körpergröße, zur Jahreszeit, oder zu Ort und Situation. Außerdem: Verhalten, das nicht zur Tageszeit passe. "Wenn jemand im Flughafencafe schon um sechs Uhr morgens über einem Glas Rotwein sitzt, ist das ungewöhnlich", sagt der Fahnder.

Allerdings: Bei allem Wert dieser Wahrnehmungen, bei allem Bauchgefühl, das daraus entsteht: Eröffnen nicht genau diese Einschätzungen, die auf ein "Abweichen von der Norm" abzielen, auch großen Raum für Fehleinschätzungen? Nervös agieren Menschen schließlich auch, wenn auf dem Businesstrip ein entscheidendes Meeting ansteht oder sie in der Nacht vor dem Frühflug kaum geschlafen haben. Zackige Bewegungen und plötzliche Richtungswechsel haben vielleicht genau damit zu tun. Und der Spiegeltrinker greift auch morgens schon zum Rotwein, wenn er gerade keinen Diebstahl oder Terroranschlag plant.

Problem "Racial Profiling"

"Deshalb sind unsere Beobachtungen immer nur ein erster Schritt", sagt Litscher im Gespräch mit dem STANDARD. Steche eine Person etwa einem zivilen Ermittler ins Auge, könne dieser sich entscheiden, wie er weiter vorgehe. "Ich kann die Person noch länger unauffällig beobachten, ich kann sie aber auch ansprechen und zum Beispiel fragen, ob sie Hilfe braucht." In einem kurzen Gespräch könne man oft schon herausfinden: "Stimmt mein Bauchgefühl oder nicht? Kann ich den Verdacht erhärten oder entkräften?"

Ein spezielles Problem, das in der Polizeiarbeit häufig auftritt, ist das so genannte "Racial Profiling" – Angehörige ethnischer Minderheiten und Personen mit dunklerer Hautfarbe werden von der Exekutive deutlich häufiger kontrolliert als andere, wie zahlreiche Studien belegen. Das Anhalten allein aufgrund dieser äußeren Merkmale ist allerdings nicht rechtskonform, wie unter anderem die EU-Grundrechteagentur festhielt – in Österreich allein schon wegen des Gleichheitsgebots der heimischen Verfassung. Wie gehen die Ermittler mit diesem Problem um? Selbst, wenn Beamte viele Erfahrungen, etwa mit Dealern einer bestimmten Nationalität gemacht hätten, "darf das eben nicht so viel zählen", sagt Litscher. "Allein das konkrete Verhalten muss für eine Kontrolle entscheidend sein." (Martin Tschiderer, 18.5.2023)