Früher waren es Postkarten von Freunden oder der Familie, auf denen zur knappen Grußformel der Subtext der Angeberei mitgeschickt wurde: "Schaut her, wo wir sind!" Über Insta oder TikTok wird erst gar nicht gegrüßt, sondern gleich geprahlt: Wir haben es mit einem Neun-Euro-Zugticket auf das reiche und schöne Sylt geschafft, wir stehen hier ganz alleine in der Wildnis Norwegens, und wir tanzen solange durch die Nächte auf Ibiza, bis ein österreichischer Politiker die halbe Heimat verschachert hat. Einziges Problem an solchen Bildern, die touristische Begehrlichkeiten wecken: sie stimmen selten mit der Realität überein.
Felsiges Trugbild
Eines der meistverbreiteten Trugbilder der Reisewelt in den Sozialen Medien ist jenes vom einsamen Preikestolen. Auf der natürlichen Felsplattform über dem norwegischen Lysefjord geht es fast zu jeder Tageszeit und bei jedem Wetter zu wie auf einem japanischen Zebrastreifen – wobei die Bilder von der immervollen Tokioter Shibuya Crossing zu den meisten Tageszeiten eine maßlose Übertreibung sind. Dabei gäbe es alleine in der unmittelbaren Umgebung des "Predigtstuhls" (so die wörtliche Übersetzung) viele alternative, ansprechende Felsvorsprünge und schöne steinerne Kanzeln sonder Zahl in den Alpen.
Amerikanische Touris vor italienischen Meistern
Es ist dennoch erstaunlich, wie beharrlich wir italienische Meister nur in den Uffizien in Florenz sehen wollen, obwohl in einem deutschen Museum garantiert weniger amerikanische oder chinesische Touristen vor denselben italienischen Malern stehen. Und warum fallen wir immer wieder darauf herein, dass in der berühmten Postkarten-Bucht von Zakynthos eben nicht nur ein pittoresk vor sich hinrostendes Wrack liegt, sondern in Wirklichkeit ein Influncencer neben dem anderen?
Überall in Europa existieren optische und atmosphärische Doppelgänger beliebter Sommer-Reiseziele. Die Alternative ist meist nur halb so überlaufen wie das vermeintliche Original – und schon deshalb doppelt so schön.
Polen statt Sylt

Der Sommer ’22 war auf der Nordseeinsel Sylt dank 9-Euro-Ticket noch sardinenbüchsiger als sonst. Dabei gibt es sanfte Dünen und wogende Gräser auch mit weniger Menschen: Insgesamt 500 Kilometer Sandstrände hat etwa die polnische Ostseeküste zu bieten, wobei der Slowinzische Nationalpark oder die Strände um Trzęsacz in Westpommern besonders erholsam sind.

Albanische Riviera statt griechische Ägäis

In der berühmten Navagio-Bucht auf Zakynthos liegen ein Schiffswrack und die Hoffnung auf Einsamkeit begraben, denn täglich kommen tausende Badende auf dutzenden Ausflugbooten angeschippert. Optisch nahe verwandt, aber ruhiger sind die Buchten und Inseln von Ksamil in Albanien.

Schweizer Steg statt Norwegischer Stuhl

In fünf Jahren hat sich die Besucherzahl auf dem norwegischen Preikestolen (Predigtstuhl) dank Instagram verhundertfacht. Um auf dem Felsvorsprung überhaupt einen freien Stehplatz zu finden, muss man schon bei Regen oder in der Nacht kommen. Dabei gibt es Alternativen wie den Schweizer Kandersteg am Oeschinensee, der nicht nur am Foto einsam wirkt.

Istrisches Idyll statt montenegrinische Neubauten
Auf Postkarten schauen Budva in Monetenegro und Rovinj an der istrischen Westküste wie eineiige Zwillinge aus. In dem Fall gilt aber: Wer weiter weg in Urlaub fährt, wird nicht mit der unbeleckteren Destination belohnt. Während rund um die kroatische Altstadt auch das Gesamtbild passt, warten außerhalb des hübschen Bildausschnitts von Budva überall in der Bucht hässliche Neubauten.
Maltesische Bar statt Balearischer Großraum
Schwer nachvollziehbar, woher das urbane Ibiza den guten Ruf als Ort zum Ausgehen hat. Wer nicht mitteleuropäischen Maturanten in der Großraumdisco auf die Füße steigen will, sollte sich in einer Stadt ins Nachtleben stürzen, die den Namen eher verdient. In Maltas Hauptstadt Valletta locken lässige Vintage-Bars, danach tanzt man nordwestlich des Zentrums in Paceville durch die Clubs.
Italienische Meister an der Elba statt am Arno
Im ersten Pandemiejahr war Florenz leergefegt als wäre es ein "Geheimtipp". Längst geht es touristisch wieder arg zu am Arno, auch im Hochsommer. Das "Florenz an der Elbe" ist dagegen nicht nur klimatisch erträglicher, auch an die italienischen Meister kommt man in Dresden leichter ran als in den Uffizien. Etwa in der Dresdner Galerie an die Sixtinische Madonna von Raffaello Santi, der auch in Florenz tätig war. dresden.de
Bosnischer Basar statt "altes Antalya"
Authentizität bedeutet Echtheit im Sinne von Ursprünglichkeit. Somit ist es eine reine Geschmackssache, ob man echt chinesische Ware lieber auf einem türkischen oder auf einem bosnische Bazar kauft. In Sachen optisch gut vorgegaukeltem Alter hat aber wahrscheinlich der Bazar von Antalya in der Türkei gegenüber jenem in Sarajevo in Bosnien-Herzegowina das Nachsehen. Im Baščaršija sind zudem die Chancen höher, auch auf regionale Produkte zu stoßen.
Algarve statt Obere Adria aus akustischen Gründen
Mit Ausnahme kleiner symmetrischer Defizite stehen die Strände der Algarve jenen an der Oberen Adria in Sachen Vollbelegung um nichts nach. Wer sich gerne geordnet sonnt und lieber sauber ausgerichtet am Sand ist, kann trotzdem einmal den Praia da Rocha anstelle der Strände von Lignano ausprobieren. Warum? Wer die Augen zumacht und genau hinhört, wird in Portugal deutlich weniger österreichische Idiome vernehmen. Das hört sich nach Urlaub an, nicht wahr?
Weiß Getünchtes in Marokko statt auf den Kykladen
Die weiß getünchten Häuser der Kykladen machen gefühlt Dreiviertel der Postkartenmotive aus, die aus diesem Gebiet verschickt werden. Die Chora von Naxos sieht im Abendlicht besonders idyllisch aus, aber weil dort blaue Fensterläden weitgehend fehlen, ähnelt die Architektur fast schon mehr den weißen und sandfarbenen Kuben hinter Stadtmauer von Essaouira. Unbedingt ruhiger geht es in der marokkanischen Stadt am Atlantik zwar nicht mehr zu, die vielen hübschen Boutiquehotels waren dort zuletzt aber etwas leistbarer.
Nach Argentinien statt auf dem Jakobsweg pilgern
Zu guter Letzt noch ein Denkanstoß, der über den Tellerrand Europas hinausblickt. "Ich bin dann mal weg" und also am Ende de Jakobswegs immer in Santiago de Compostela angelangt, sagten seit Erscheinen des Buchs von Hape Kerkeling deutlich zu viele als Pilger getarnte Touristen. Ein bisserl mehr Ruhe suchende Pilger sollten besser bei der Jungfrau von Luján vorbeischauen – nicht nur, weil der aktuelle Peso-Kurs einen Urlaub in Argentinien für Europäer gerade unverschämt günstig macht. (saum, 20.5.2023)