In Freitas’ Auslegung von Alban Bergs "Lulu" gibt Vera-Lotte Boecker die Protagonistin und Bo Skovhus den Dr. Schön. Es spielt das ORF-Radiosymphonieorchester unter Maxime Pascal.

Vera-Lotte Boecker

Die Pandora lässt Marlene Monteiro Freitas nicht los. Bei den Wiener Festwochen im Vorjahr drehte und wendete die auf den Kapverden geborene Choreografin die antike Legende von der Schönen mit der Büchse als Idiota in einer Glasbox.

Jetzt kommt Freitas wieder, und zwar mit ihrer Interpretation von Alban Bergs Lulu, postum uraufgeführt 1937. Die Handlung dieser Oper speist sich aus Frank Wedekinds Tragödien Die Büchse der Pandora und Erdgeist.

Freitas’ Lulu hat viel Vorgeschichte. Immer wieder gab ihre Einsicht, dass unser Menschsein mit kräftigen Dosen Wahnsinn unterfüttert ist, der Choreografin Stoff für fabelhafte Stücke. Bereits in frühen Arbeiten wie Guintche, Of Ivory and Flesh oder Jaguar war zu sehen, wie meisterhaft die heute 44-Jährige das Absurde aus unserer Kultur der unbewältigten Selbsterkenntnis destilliert.

Zwischen Banalität und Exzess

Bei Bacantes – Prelúdio para uma purga brach sie 2017 in die Frühzeit der Tragödie ein und forderte den guten alten Euripides zu einem wüsten Tanz heraus. 2020 zeigte sie in Mal – Embriaguez Divina, wie der "göttliche Rausch" des Lebens ins Destruktive kippt. Als Grundlage führte Freitas Batailles Die Literatur und das Böse an, gab aber auch Raum für Hannah Arendts Ansatz von der "Banalität des Bösen".

Arendt ging es um Eichmann, den Organisator der Shoa, und dessen Performance als unscheinbarer Bürokrat. Dazu passend führte Freitas den Vernichtungsrausch als Regierungs-, Gerichts- und Publikumstribüne vor. Vor zwei Jahren kam ihre Geschichte des Pierrot lunaire zu den Festwochen, allerdings wohl etwas anders, als Arnold Schönberg sie sich 1912 für seine Komposition gleichen Titels vorgestellt hatte. In einer rigiden Installation führte Freitas die Metapher des Politischen als schamanistisches Ritual und kontrollierten Exzess im Gewand des Sakralen vor.

Mit der Lulu inszeniert sie jetzt erstmals eine Oper. Die Voraussetzungen für diese Koproduktion der Festwochen mit dem Theater an der Wien sind in ihrer Werkbiografie zwischen Guintche, Pierrot lunaire und Idiota angelegt.

Zartes Monument der Details

Zu Sound und Musik pflegte Marlene Monteiro Freitas immer schon ein enges Verhältnis. "Sie sind bei jedem Schritt der Arbeit dabei und manchmal die Basis für neue Ideen", erklärt sie. "Ich nutze sie auch als Werkzeuge zur Strukturierung von Stücken oder um eine Dramaturgie zu finden."

Die Lulu ist für Freitas "kein Charakter, sondern ein Pfad, ein Tunnel, ein Loch". Ihr Bild sei "stärker als die Figur selbst – zugleich Verzauberung und Verzweiflung, ein Kunstwerk, Schicksal, Tragödie".

Auf Freitas’ Bühne tritt eine Hundertschaft aus Performern, Sängern und dem ORF-Radiosymphonieorchester auf. Denn "sie sind alle Teile des Ganzen, als ein Körper, der Lulu abliefert".

Daher macht Freitas in ihrem "choreografischen Diskurs nicht wirklich einen Unterschied zwischen den Sängern und den Tänzern". Und sie liebt die Details dieser Oper: "Sie sind wie Türen, durch die man etwas Monumentales und zugleich Zartes betritt. Das ist sehr schön für mich." (Helmut Ploebst, 19.5.2023)

Lulu, Museumsquartier Halle E, 27., 29., 31. 5. + 2., 4., 6. 6.,

Jeweils um 19.00