Die junge Frau sitzt mit ihrer Freundin auf einer Bank am Bosporus und spricht über die Wahl. "Es ist eine Riesenenttäuschung. Ich verstehe eigentlich gar nicht, wie das passieren konnte." Auch die andere ist sichtlich mitgenommen: "Was sollen wir in diesem Land noch machen?", fragt sie.

Ob sie denkt, dass die Opposition in der Stichwahl noch gewinnen könnte? Sie schüttelt den Kopf: "Wir haben gesehen, dass Erdoğan alles in der Hand hat, jede Wahl manipulieren kann. Wir haben keine Chance mehr." Beide Frauen, die eine Architektin, die andere Fotografin, haben schon ihre persönliche Konsequenz im Blick: "Wir werden versuchen ins Ausland zu gehen." Mit wehmütigem Blick auf den Bosporus fügt eine hinzu: "Schaut euch an, was wir zurücklassen müssen."

Vor allem viele junge Menschen in der Türkei sehnen Veränderung herbei. Der auf einem Plakat verkündete Abschied von Recep Tayyip Erdoğan dürfte aber vorschnell ausgesprochen worden sein.
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Ähnliche Antworten bekommt man in diesen Tagen von vielen jungen Leuten, die am 14. Mai mit großen Hoffnungen den oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu gewählt haben. Viele wollen zwar am kommenden Wochenende in der Stichwahl noch einmal für ihn stimmen, doch der hoffnungsvolle Schwung vor dem ersten Wahlgang ist dahin. Andere haben resigniert und wollen erst gar nicht mehr zur Urne gehen.

Wie die beiden Frauen vom Bosporus-Ufer sind viele überzeugt, dass das Wahlergebnis manipuliert wurde: "Warum hat die CHP das nicht verhindert?", fragt Mehmet, ein junger Mann, der am Wahlstand der Mitte-links-Partei in Üsküdar haltgemacht hat. "Wo waren die versprochenen Wahlbeobachter, die an jeder Urne mitzählen sollten?" Zwar hat die CHP am Mittwoch, drei Tage nach der Wahl, verkündet, dass in 7000 Fällen ihre Protokolle aus den Wahllokalen nicht mit den bei der Wahlbehörde eingegebenen Ergebnissen übereinstimmen, doch das Momentum war da längst vorbei. "Wir hätten noch in der Wahlnacht zur Hohen Wahlbehörde ziehen müssen, mit Kılıçdaroğlu an der Spitze", findet Mehmet. "Jetzt lassen sie uns einfach auflaufen".

Sieg des "Erdoğanismus"

Der Frust über die mangelnde Reaktion der CHP ist einer der Gründe, warum manche an der Stichwahl gar nicht teilnehmen wollen. Ein anderer, womöglich gewichtigerer Grund ist aber der Schock darüber, dass Erdoğan nach offiziellen Angaben 2,5 Millionen Stimmen mehr bekommen konnte als Kılıçdaroğlu. Und das trotz Wirtschaftskrise, trotz des Versagens der Regierung nach dem großen Beben und trotz eines gesundheitlich angeschlagenen Präsidenten, der keine neuen Ideen anzubieten hat, sondern bloß mehr vom Gleichen verspricht.

Offenbar gibt es aber in der Türkei Millionen Menschen, die das überhaupt nicht anficht. Sie lieben und verehren ihren "Reis", ihren Führer, ohne Abstriche. Einige Beobachter sprechen von einem in 22 Jahren Erdoğan-Herrschaft analog zum Kemalismus neu entstandenen "Erdoğanismus", einem ideologischen Amalgam aus Islam und Nationalismus, in dem diese Menschen voll aufgehen. Menschen, die ihr Selbstwertgefühl daraus beziehen, dass Erdoğan angeblich eine Türkei geschaffen hat, die sich vom Westen nicht mehr gängeln lässt, die militärisch stark ist, die ihre eigenen Regeln setzen kann.

Das wird unterstützt durch eine zweite Komponente, die von vielen Beobachtern unterschätzt wurde: Erdoğan geriert sich als der wahre Führer des sunnitischen Islam, der dort wieder ansetzt, wo die Türkei mit dem Untergang des Osmanischen Reichs diesen Status einst verloren hat. Erdoğan hat Istanbul zum Zentrum der Muslimbrüder gemacht.

Aber nicht nur diese haben nun für eine Wiederwahl Erdoğans getrommelt. Von den Taliban im Osten bis zu diversen libyschen Scheichs im Westen haben alle zu seiner Wahl aufgerufen. Für seine Anhänger in der Türkei ein klares Zeichen, dass ihr "Reis" tatsächlich wieder der Führer der islamischen Welt ist.

Die Opposition hat diesem Islamo-Nationalismus die Rückkehr zu Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit entgegengestellt. Sie hat dadurch so viele Menschen wie noch nie seit Erdoğans Machtantritt erreichen können. Umso mehr wird in der Opposition nun gerätselt, warum es dennoch nicht gereicht hat.

Lieber keine Experimente

Die Antwort ist in einer dritten Gruppe zu suchen: bei Menschen, die weder Erdoğan lieben noch unbedingt nach Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit streben, sondern die zuerst einmal auf ihren Vorteil schauen. Das sind viele, die durch die Wirtschaftskrise in Not geraten sind. Kılıçdaroğlu hat ihnen versprochen, die Inflation zu bekämpfen und die Preise damit zu senken. Doch es ist schwer, gute Wirtschaftspolitik in massentaugliche Parolen zu verpacken.

Erdoğan wiederum hat, durch welche Umstände auch immer begünstigt, vielen Menschen vor zehn Jahren zu bescheidenem Wohlstand verholfen. Die Leute kennen ihn. Kılıçdaroğlu wäre erst einmal ein Sprung ins Ungewisse. In unsicheren Zeiten ist Angst ein starkes Motiv, viele neigen dann dazu, lieber keine Experimente zu wagen.

Kılıçdaroğlu versucht nun, durch nationalistischere Töne Wähler des ausgeschiedenen Kandidaten, des Rechts-außen-Politikers Sinan Oğan auf seine Seite zu ziehen. Doch das wirkt wenig überzeugend, eher wie aus Verzweiflung geboren. "Natürlich können wir noch gewinnen", sagt einer der Architekten seines Oppositionsbündnisses. "Das käme aber einem kleinen Wunder gleich." (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 21.5.2023)