Seit fünf Jahren ist Harald Mahrer Chef der Wirtschaftskammer (WKO). Der einflussreiche Chef des ÖVP-Wirtschaftsflügels lud deshalb den STANDARD zu einer Tour d'Horizon in sein Wiener Büro ein. Mahrer wollte über vieles sprechen, schlussendlich sollte sich das Gespräch aber fast nur um eines drehen: die WKO und die Klimapolitik.

STANDARD: Haben Sie Ihre Zeit an der Spitze der Wirtschaftskammer vergeudet? Die Kammer steht immer an vorderster Linie, wenn es ums Blockieren von Klimaschutz geht. Es gibt aber kaum ein wichtigeres Thema.

Mahrer: Also das ist ein Vorwurf, den uns all diejenigen machen, die gern die reine Lehre vertreten. Wer hat denn für eine Renaissance der ökosozialen Marktwirtschaft gesorgt? Wer war der primäre Erfinder und Treiber der aktuellen Koalitionsform, der gesagt hat: Wir sollten versuchen, jene mit einem sehr wirtschaftlich orientierten Ansatz und jene mit einem sehr ökologisch orientierten Ansatz, also die ÖVP und die Grünen, zusammenzubringen? Die Idee ist primär von mir und von Spitzenvertretern des Wirtschaftsbundes gekommen, die die tonangebende Fraktion in der Wirtschaftskammer sind. Was uns aber wahnsinnig stört, ist, dass man sich einigelt in bestimmten ideologischen Positionen und nur auf einzelne technologische Lösungen setzt.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Mahrer: Es wäre aberwitzig, zu glauben, wir können jetzt sagen, welche technologischen Lösungen sich in 15 oder 20 Jahren durchsetzen. Ob in Zukunft die E-Fuels, die synthetischen Kraftstoffe, in unterschiedlichen Bereichen effizient eingesetzt werden oder nicht, weiß man noch nicht. Aber man muss hier mal etwas ausprobieren können.

STANDARD: Gutes Stichwort. Audi-Boss Markus Duesmann geht davon aus, dass es Mitte des kommenden Jahrzehnts in allen Weltregionen vorbei sein wird mit Verbrennern. Audi will den letzten 2033 produzieren, Mercedes 2030, Volvo 2030. Steht es nicht schon fest für die Industrie, dass E-Autos die Zukunft gehört?

Mahrer: Ich würde gern wissen, wie die Ladeinfrastruktur dafür ausschaut, wie die Stromproduktion und wie das Leitungsnetz. Es gibt dafür in Europa keine vernünftigen Aufbaupläne. Wir haben in Österreich bis 2030 eine Lücke von 40 Terawattstunden bei der Stromproduktion, die sich auftut. Und mir gibt niemand, weder aus der Elektrizitätswirtschaft noch aus der Spitzenpolitik, eine Antwort, wie sich das ausgehen soll. Die einzige Ansage der Ministerin ist: Die Sonne und der Wind schicken uns keine Rechnung. Und ich sage dazu: Die Photovoltaikanlagenbetreiber und die Windkraftanlagenbetreiber tun das schon. Das ist, was mich stört, dieser Populismus, dieses Leuten-Sand-in-die-Augen-Streuen.

STANDARD: Der VW-Chef sagt, E-Fuels hätten eine Daseinsberechtigung bei Oldtimern, in der Seefahrt, im Motorsport. Müssten Sie nicht ihm erklären, dass er technologieoffen sein soll?

Mahrer: Achtung, diese Autobauer machen das, weil ihnen auf europäischer Ebene ein Strafzahlungsrahmen gesetzt wurde. Warum produzieren sie nicht eins zu eins sofort in all ihren globalen Produktionsstandorten auch Elektrofahrzeuge?

Muss er das mit der Technologieoffenheit noch den Autobauern erklären? WKO-Chef Harald Mahrer.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Es ist doch eine globale Entwicklung. In China sollen ab 2025 mehr als die Hälfte der Neuwagen E-Autos sein.

Mahrer: Ich will ein Beispiel aus der Schweiz geben: Dort gibt es seit geraumer Zeit ein Wasserstoffkonsortium für den Schwerverkehr. Eine Reihe österreichischer Unternehmen hat sich das angesehen und wollte Ähnliches probieren: Rewe, Spar, die Post, also Betriebe mit großen Lkw-Flotten. Im Verbund mit der OMV, dem Verbund und Rosenbauer und Magna Steyr haben Sie ein Konsortium gebildet. Sie haben gesagt, man könnte bis 2030 gut 2.000 Lkws mit Wasserstofftechnologie antreiben. Sie wollten testen und dann hochlaufen lassen. Sie haben bei der Klimaministerin um eine Mautbefreiung für diese 2.000 Lkws ersucht, dann würde sich das Projekt irgendwie rechnen. Bis heute gibt es dafür kein Geld.

STANDARD: Hier geht es allerdings um Schwerverkehr.

Mahrer: Aber die Geschichte ist doch, die politische Botschaft: Wir glauben nicht dran, dass Wasserstoff bei uns im Mobilitätsbereich eine Rolle spielen wird. Ich sage: Woher wissen wir das heute? Es gibt Unternehmen, die wollen das machen und ausprobieren. Und die sollen auch dabei unterstützt werden.

STANDARD: Die Regierung will Österreich bis 2040 klimaneutral machen. Um E-Fuels marktreif zu bekommen, dauert es 15 Jahre. Haben wir die Zeit?

Mahrer: Mir kann niemand erklären, wie wir dieses Ziel bis 2040 mit einer sinnvollen Balance zwischen Sozialverträglichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Modernisierung der Wirtschaft erreichen können. Man kann ja Ziele wo hinschreiben, aber wenn jeder hinter vorgehaltener Hand sagt, das sei gar nicht machbar: Was sagt das über diese Zielsetzung aus? Mein Punkt ist: Wir wollen uns in diese Richtung bewegen. Aber es muss die Möglichkeit geben, das gut umzusetzen.

STANDARD: Ist es nicht so, dass Sie und die ÖVP in den vergangenen Jahren beim Klimaschutz blockiert haben? Jetzt sagen Sie: Die Zeit ist zu knapp.

Mahrer: Aber das ist doch eine totale "Wag the dog"-Geschichte und NGO-Propaganda. Wir fordern nachweisbar seit Jahrzehnten Verfahrensbeschleunigungen für den Netzausbau im Strombereich, für große Projekte in der Kraftwerksinfrastruktur. Umweltschützer haben das immer wieder verhindert. Dieselben Leute, die sich jetzt auf der Straße ankleben, würden sich vermutlich auch ankleben, wenn man irgendwo damit den Bau einer 380-KV-Stromleitung verhindert. Ich finde es so superpopulistisch, dass man Ja sagt zu einer Energiewende, aber im gleichen Atemzug kein Windrad vor der Tür haben will. Oder: Wir sind für eine Energiewende, aber bei mir darf keine großflächige PV-Anlage stehen.

STANDARD: Wie sehen Sie die Aktionen der Klimakleber?

Mahrer: Die haben auch eine einfache Antwort: Ihr dogmatischer Ansatz ist, alles der Klimawende unterzuordnen. Wenn man immer über die Verhältnismäßigkeit der Mittel spricht, frage ich mich, wieso die sich die nicht vor der chinesischen oder indischen Botschaft ankleben. Oder vor Institutionen, die gegen den Ausbau von Stromleitungen sind.

STANDARD: Kernforderung der Klimakleber ist Tempo 100 auf Autobahnen. Die Experten sagen, das spart CO2 ein, ohne etwas zu kosten. Sind nicht jene radikaler, die das ablehnen?

Mahrer: Nein, überhaupt nicht. Wir brauchen auch eine Anschlussfähigkeit für politische Botschaften. Es braucht im Land einen großen Plan von einer breiten Mitte für eine breite Mitte. Den Radikalen von ganz rechts bis ganz links wird man es nie recht machen können. Aber um was es mir geht, ist, die Motivation der Menschen zu fokussieren. Die wollen eine Veränderung und bringen einen Protest zum Ausdruck, das ist in einer Demokratie in Ordnung. Aber sie setzen sich für Dinge ein, die uns nicht weiterbringen, und vergraulen damit auch Menschen, die ihre Anliegen eigentlich auch unterstützen würden.

STANDARD: Sie wollen es auch erzwingen.

Mahrer: Ja, aber der Schritt zur Roten-Armee-Fraktion aus den Siebzigern ist dann nicht mehr weit. Ich habe diese ganzen Aktionen zur Beschädigung von Kunst sehr bedenklich gefunden. Da fehlt dann nicht mehr viel zur Gewalt, und das macht mir Angst. Also ab dem Zeitpunkt, wo eine Gewaltbereitschaft da ist, richtet sich das gegen den Diskurs und damit die Grundfesten unserer Demokratie.

Aktivisten der Letzten Generation überschütteten im vergangenen Herbst im Wiener Leopold-Museum das Klimt-Bild "Tod und Leben" mit Farbe. Das Bild war hinter Glas.

STANDARD: Können Sie die Klimaschützer in einem anderen Punkt beruhigen: WKO-Generalsekretär Karlheinz Kopf will die CO2-Steuer für Heizen und Sprit gleich wieder abschaffen. Sehen Sie es auch so?

Mahrer: Wir haben ausgemacht auf Regierungsebene, dass wir ein Parallelgehen mit Deutschland bei der CO2-Steuer machen. Der Grund liegt auf der Hand: Wettbewerbsfähigkeit. Die Deutschen haben die Erhöhung ihres CO2-Preises wegen steigender Energiepreise herabgesetzt. Ich würde mich gern weiter dazu kommittieren, was wir in Österreich ausgemacht haben. Machen wir einen Preis für Emissionen, aber machen wir es doch wie unser wichtigster Handelspartner. Das war eigentlich die Vereinbarung im Herbst 2021. Wir haben nicht vereinbart, dass wir jetzt die Deutschen beim CO2-Preis überholen. (In Deutschland soll der Preis 2024 bei 35 Euro je Tonne CO2 liegen, in Österreich wären es dann 45 Euro, Anm.)

STANDARD: Aber dieser Pfad beim CO2-Preis ist gesetzlich für das kommende Jahr festgeschrieben.

Mahrer: Aber die Regierung ist frei, mit einer Vorlage zu sagen: Ich passe mich an den deutschen Pfad an.

STANDARD: Im Nationalrat liegt aktuell ein Gesetz, mit dem der Ausstieg aus Öl und Gas forciert werden soll. Bis 2035 sollen Ölheizungen verschwinden, ab 2040 Gasheizungen. Auch hier ist die Wirtschaftskammer auf der Bremse.

Mahrer: Der Vorwurf kommt ständig, dass die Wirtschaftskammer und die Industrie aus Eigeninteresse dagegen sind. Das ist ein Schwachsinn. Österreich verdient auf den Weltmärkten mit nachhaltigen Technologien nicht nur sehr gutes Geld, sondern ausgezeichnetes Geld. Das ist ein Exportschlager, und wir tragen damit zu einer hohen Wertschöpfung zu Hause bei und schaffen gut bezahlte Jobs. Wir tragen auch dazu bei, dass diese Energiewende, diese große Transformation in Richtung Klima und Umweltschutz, rund um den Globus super funktioniert.

Wirtschaftskammer-Chef Mahrer in seinem Büro in Wien. Das Bild, vor dem er steht, stammt vom brasilianischen Künstler Harding Meyer.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Warum sind Sie beim Tausch der Heizsysteme so skeptisch?

Mahrer: Was wir sagen, ist, dass wir einen machbaren Plan brauchen. Erstens muss der Austausch der Heizsysteme für die Menschen leistbar sein. Da geht es um echt viel Geld. Es muss technisch machbar sein: In Mehrfamilienhäusern ist das noch extrem komplex. Und ganz ehrlich: Was ist mehr inflationstreibend und gleichzeitig verunsichernd für einen Standort, als wenn ich ein vollkommen illusorisches Ziel vorgebe, das ich technisch nicht umsetzen kann? Glauben Sie, dass irgendwelche meiner Mitgliedsbetriebe Feinde des eigenen Geschäftes sind? Die freuen sich über einen Heizungstausch. Aber ich bräuchte zum Beispiel Dinge wie ein Susi-Sorglos-Paket in der Finanzierung, wo ich also zu meiner Bank gehe und nur mit einer einzigen Unterschrift sage: Ich mache diesen Austausch und nehme dafür ein günstiges Darlehen, wo alles organisiert ist. Denken Sie, dass sich das irgendeiner in der öffentlichen Verwaltung überlegt hat? Wir diskutieren über ein Programm, das ist Fantasterei.

STANDARD: Aber was wäre dann Ihr Gegenvorschlag, zum Beispiel den Heizungstausch erst mit 2050 forcieren?

Mahrer: Ich kann Ihnen keine Jahreszahl sagen. Ich kenne die Kapazitäten der Produzentinnen und Produzenten, der Heizungstausch wird in ganz Europa forciert. Solche Geräte sind in ganz Europa gefragt. Dennoch gibt es bei uns ein Inseldenken, als würde das alles nur bei uns stattfinden. (Interview: András Szigetvari, 20.5.2023)