Martin Amis gilt als stilistisch brillanter, inhaltlich oft umstrittener Autor.

Foto: APA/AFP/GETTY IMAGES/AMANDA EDWA

Als "literarischen Giganten" (Sunday Times), als "Trendsetter einer ganzen literarischen Generation", so Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro, würdigen die Feuilletons der britischen Zeitungen den jetzt verstorbenen Romancier und Essayisten Martin Amis. Angedeutet wird damit zweierlei: der kometenhafte Aufstieg des jungen Enfant terrible der Londoner Literaturszene zu Beginn der 1970er-Jahre, längst vor seinen Zeitgenossen Julian Barnes, Ian McEwan oder Salman Rushdie; aber auch seine – jedenfalls im Vergleich zu diesem Trio – zunehmende Bedeutungslosigkeit in diesem Jahrhundert.

Der Sohn des damals berühmten Satirikers Kingsley Amis ("Glück für Jim") interessierte sich, so geht die Fama, beinahe ausschließlich für Comics, ehe es seiner Literaten-Stiefmutter Jane Howard gelang, den Jugendlichen für Jane Austens Romane zu begeistern. Die Literatur blieb Amis‘ Leidenschaft: Nach dem Prädikatsexamen an der Universität Oxford machte er von 1971 an Karriere als Literaturkritiker für The Observer und The Times, veröffentlichte bald seinen Debütroman, war umschwärmter Star des literarischen Lebens und regelmäßiger Gast in den Klatschspalten. Das lag einerseits an seinen häufig wechselnden glamourösen Partnerinnen, andererseits am schwierigen Verhältnis zum Vater.

Satirisch, verspielt – und misanthropisch

Amis‘ wichtigsten Roman "Money" (1984, deutsch als "Gier") soll Kingsley verächtlich beiseite gelegt haben. In der Rezeption von "London Fields" (1989) klang an, was später immer wieder gegen Amis vorgebracht wurde: Dessen satirisch-verspielte, misanthropische Erzählweise schlage zu häufig in Frauenfeindlichkeit um. Der Autor überraschte mit literarischen Experimenten wie "Time’s Arrow" (1991) und Sachbüchern wie "Koba der Schreckliche" (2002) über den Massenmörder Josef Stalin. In der Autobiographie "Experience" (deutsch als "Die Hauptsachen") legte er Rechenschaft ab über seine zuletzt versöhnlichere Haltung dem Vater gegenüber.

Amis blieb ein Liebling der linksliberalen Londoner Literatenszene, trat für nukleare Abrüstung ein, lehnte den Irak-Krieg ab, "liebte" die multiethnische Identität der englischen Metropole. Vom Mainstream entfremdet wurde er, wie sein alter Freund Christopher Hitchens, durch das "schrecklich faszinierende" Ereignis vom 11. September 2001, das 9/11 zu nennen er sich aus "moralisch-ästhetischen" Gründen standhaft weigerte: Die Abkürzung sei eine Beleidigung der Opfer. Immer wieder stellte Amis in Interviews und Essays bohrende Fragen zum Verhältnis zwischen der Religion des Islam und dem terroristischen Islamismus.

Schockierendes Gedankenexperiment

"Haben Sie nicht auch manchmal das Verlangen zu sagen: ‘Die Muslime sollen leiden, bis sie ihr eigenes Haus in Ordnung gebracht haben.’ Reiseverbote, Ausweisungen, Freiheitseinschränkungen – Diskriminierung, bis es ihnen wehtut und sie ihren Kindern Grenzen setzen." Dieses schockierende "Gedankenexperiment" aus einem Times-Interview nahm der Intellektuelle rasch zurück. Aber er beharrte darauf, unter anderem im Essayband "The Second Plane" (2008), dass nicht alle Kulturen gleich seien: "Ich habe was gegen sogenannte Ehrenmorde, gegen Genitalverstümmelung, gegen Frauenverachtung." Der islamische Kulturkreis sei gekennzeichnet von "extremer Gleichgültigkeit" gegenüber Anderem. Den mörderischen Islamisten fühle er sich allemal "moralisch überlegen".

Gelegentlich stand seine sprachliche Eleganz der Formulierung präziser Gedanken im Weg, provozierte der Romancier mit ins Unreine gesprochenen Wortmeldungen. Dann verschwamm die sorgfältige Unterscheidung zwischen "normalen" Muslimen und Islamisten, erklärte Amis apodiktisch den Islam zur einzigen Gewalt-affinen Religion – als hätte nicht in einer Provinz des Vereinigten Königreichs Jahrzehnte lang ein Bürgerkrieg getobt, bei dem die Nordiren ethnisch-religiöse Motive ins Feld führten, um sich gegenseitig in die Luft zu sprengen.Er liebe seine toleranten, humorvollen englischen Landsleute, sagte Amis zu Beginn der konservativen Herrschaft, die kürzlich ihr 14. Jahr begann, mache sich aber Sorgen um die "moralische Altersschwäche" des Landes. Seine letzten Jahre verlebte er mit seiner zweiten Frau Isabel Fonseca vor allem in den USA; im Bundesstaat Florida ist der lebenslange Raucher Amis am Freitag 73-jährig an Speiseröhrenkrebs gestorben. (Sebastian Borger, 21.5.2023)