ÖGB-Chef Wolfgang Katzian ist besorgt um den Industriestandort Österreich und auch über das Ausmaß der Zerstrittenheit in den politischen Parteien, vor allem in seiner eigenen, der SPÖ. "Die Welt ist in einem riesengroßen Veränderungsprozess", sagt er in einem Interview mit dem STANDARD. Man müsse gemeinsam "alles tun", um die Zukunftsfähigkeit des Landes zu sichern.

Er ruft die Parteien zu nationalem Konsens auf. "Es wäre gut, wenn es gelänge, drei, vier Ecksteine von Zielen für Österreich zu definieren, auf die sich alle politischen Akteure einigen können", sagt der ÖGB-Chef. Europa und die EU stünden durch Klimaveränderung, Digitalisierung und Zuwanderung vor gewaltigen Herausforderungen, vor allem, was den sozialen Zusammenhalt betrifft, es brauche ein "gut gewähltes Netz der sozialen Sicherheit". An seine Parteifreunde gewandt, sagt Katzian: "Das schreit nach einer Sozialdemokratie!"

Diese Woche wird der ÖGB-Chef in Berlin bei einem Kongress zum Präsidenten des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) gewählt. Er wird damit Chef von 93 Gewerkschaften in 41 europäischen Ländern mit insgesamt 45 Millionen Mitgliedern.

STANDARD: Sie werden diese Woche in Berlin zum Präsidenten des EGB gewählt. Was bedeutet das persönlich für Sie?

Katzian: Es war nicht in meiner Lebensplanung. Ich bin jetzt seit fünf Jahren ÖGB-Präsident und war dadurch auch Mitglied im Vorstand des EGB. Ich habe meine Erfahrungen dort eingebracht und natürlich auch unsere Erfolge vorgetragen. Als wir zum Beispiel in der Pandemie zum dritten Mal die Kurzarbeit durchgebracht haben, hat das Eindruck gemacht. Von so etwas konnten die Kollegen in den anderen europäischen Ländern teilweise nur träumen.

STANDARD: Sie werden dann für vier Jahre der Vorsitzende von 45 Millionen Gewerkschaftsmitgliedern in 93 Gewerkschaften in 41 Staaten in EU, Efta und/oder Europarat sein. Ein Höhepunkt Ihrer Karriere, hat man da sogar Ängste?

Katzian: Es ist auf jeden Fall spannend. Fürchten tue ich mich nicht. Aber Respekt habe ich schon. Und natürlich ist das eine Ehre. Wir sind als Österreich nicht gerade das größte Land in Europa. Wenn man die Chance hat, gestalterisch wesentlich daran mitzuwirken, wie sich die Gewerkschaftsbewegung in Europa mitentwickelt, dann mache ich das gerne.

STANDARD: Einer Ihrer ÖGB-Vorgänger, Fritz Verzetnitsch, hatte diese Funktion auch schon von 1993 bis 2003, in großen Umbruchzeiten des EU-Beitritts. Haben österreichische Vertreter auf EU-Ebene mehr Ansehen, als viele in Österreich vermuten?

Wolfgang Katzian will gerne gestalterisch in Europa mitwirken.
Heribert Corn

Katzian: Das hängt vielleicht damit zusammen, dass viele Dinge selbstverständlich sind, wenn man in Österreich als Arbeitnehmer oder Arbeitgeber lebt. Bei uns kann sich ein Arbeitnehmer gar nicht vorstellen, dass er einen Beruf ausübt, für den es keinen Kollektivvertrag gibt. Wir haben eine Tarifabdeckung von 98 Prozent. Deutschland hat 50 Prozent. Die Hälfte der deutschen Arbeitnehmer ist nicht durch einen Kollektivvertrag geschützt.

STANDARD: Wo in Europa ist das am schlechtesten?

Katzian: Estland hat sechs Prozent. Daran können Sie die Bandbreite der Herausforderungen erkennen. Wegen all dem traut man uns österreichischen Gewerkschaften zu, dass wir etwas sehr gut machen müssen, weil sonst hätten wir im Land nicht so gute Rahmenbedingungen.

STANDARD: Also zählt best practice, Erfahrung?

Katzian: Das war sicher einer der Gründe, warum man mich gefragt hat, diese Funktion zu übernehmen. Ich möchte, dass wir gemeinsame europäische Strategien für die Gewerkschaften entwickeln.

STANDARD: Wenn man die Grundlagen der EU-Verträge durchliest, fällt auf, dass das wirtschaftliche Hauptziel eine offene ökosoziale Marktwirtschaft ist. Markt hatte in Europa immer schon Priorität, derzeit reden alle fast nur noch über Klimaschutz und Ökologisierung. Aber für mehr Sozialpolitik klebt sich niemand auf die Straßen. Warum?

Katzian: Die Europäische Union ist schon ein Konstrukt, das zuerst als Wirtschaftsgemeinschaft entstanden ist. Weitere Komponenten mussten erst entwickelt werden. Soziales war in den Genen der EU nicht drin. Das sollten die Nationalstaaten machen, und die wollten das auch so. Da war auch ein wenig die Überlegung mit dabei, dass schlechtere soziale Standards ein Wettbewerbsvorteil sind. Das ist bis heute ein Problem. Wenn ich heute sage, machen wir doch etwas auf Ebene der EU, habe ich auch in der europäischen Gewerkschaftswelt alle Hände voll zu tun, den Haufen unter einen Hut zu bringen.

Katzian: "Soziales war in den Genen der EU nicht drin."
Heribert Corn

STANDARD: Warum?

Katzian: Weil die Geschichte der Sozialpolitik in Europa und der Arbeiterbewegung ganz viele und lange Traditionen hat, in jedem Land anders. Jeder nationale Gewerkschaftspräsident kommt mit einem Rucksack voller Geschichte nach Brüssel, seine Organisation und die Kollegen haben etwas entwickelt, auf das sie stolz sind. Und dann muss er aufpassen, dass ihm das nicht zerstört wird.

STANDARD: Ein Beispiel.

Katzian: Die Skandinavier haben zum Beispiel eine ganz starke und erfolgreiche eigene Sozialpolitik und Tarifverträge. Das haben wir gesehen bei den Schwierigkeiten, die es intern gab bei der Positionierung zur Mindestlohnrichtlinie. Das macht es selbst für uns schwer, auf der Ebene der Arbeitnehmervertreter einen gemeinsamen Weg zu finden. Da könnte ich viele Beispiele nennen. Aber wir arbeiten dran.

STANDARD: Welche Hürden gibt es noch?

Katzian: Viele sehen die EU natürlich nach wie vor hauptsächlich als Wirtschaftsgemeinschaft. Der freie Markt muss fließen, alles, was das behindert, muss beseitigt werden. Der Europäische Gerichtshof untermauert das oft noch mit Urteilen. Das führt natürlich zu Groll bei den Gewerkschaften.

STANDARD: Ist die EU eine unsoziale Union, eine Gemeinschaft für die Konzerne, wie radikale Kritiker oft sagen? Ohne soziale Mindeststandards, wie die KPÖplus in Salzburg behauptete?

Katzian: Jein. Es gibt zum Beispiel seit kurzem eine Mindestlohnrichtlinie. Da hat man im Einvernehmen mit allen gesagt, man definiert nur einen Rahmen, das Ziel seien nicht gesetzliche Mindestlöhne, sondern das Forcieren der Verhandlungen über Kollektivverträge. Die Arbeitnehmer sollen über KVs abgesichert sein. Aber in vielen anderen Ländern gibt es noch gar nichts, bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen etwa, wie dem Bordservice im Zug, da wurden Kollektivverträge umgangen. Das geht nicht.

STANDARD: Die EU-Abgeordnete Evelyn Regner von der SPÖ sagt, man könne auf EU-Ebene über das Parlament sehr viel machen. Beispiel Teilzeitrichtlinie, die eine Diskriminierung von Frauen verbietet.

Katzian: Deswegen bin ich ja nach wie vor ein überzeugter Europäer. Aber wir brauchen eine stärkere Betonung der Sozialpolitik. Die soziale Säule gibt es, sie muss mit Leben erfüllt werden. Es reicht nicht, wenn es in Papieren steht. Jetzt ist eine gute Zeit, das zu tun. Man muss auch die geplante EU-Erweiterung in diesem Zusammenhang beachten. Die Kandidaten müssen als neue Mitglieder zumindest die Grundwerte, die sozialen Mindeststandards, einhalten. Dazu gehört Gewerkschaftsfreiheit, Tarifverhandlungsfreiheit dazu. Das müssen sie umsetzen, sonst haben sie in der EU nichts verloren.

STANDARD: Braucht man mehr Europa, um gerechtere Verhältnisse herzustellen, oder weniger, wie die nationalen EU-Skeptiker sagen? Wie kommen wir zu einem "Europa der Arbeitnehmer"?

Katzian: Ein Arbeitnehmer will gerne ein gutes Leben führen, egal ob in Estland, Frankreich oder Österreich. Dazu gehört ein sicherer Arbeitsplatz, ein ordentliches Einkommen, soziale Sicherheit, wenn man krank ist oder alt wird. Dafür gibt es verschiedene Parameter, damit dieses gute Leben möglich ist. Weil Einkommen aber auch das ganze Sozialsystem mitfinanziert, muss man schauen, wie die Wirtschaft insgesamt funktioniert, wie die Arbeit stattfindet. Wenn wir dann eine globale Wirtschaft haben, eine vernetzte und weltweit arbeitsteilige, dann wird es nicht gehen zu sagen: Wir kapseln uns als Land ab, kasteln uns ein. Die Folgen solchen Verhaltens wären keine guten.

STANDARD: Aber genau diese Diskussion läuft ja im Moment. Der Krieg Russlands in der Ukraine hat die Lage noch verschärft. Kann man die Zukunft mit rein nationalen Strategien überhaupt noch bewältigen?

Katzian: Das wird nicht funktionieren.

Katzian mit Thomas Mayer vom STANDARD.
Heribert Corn

STANDARD: Also muss das gemeinsame Europa Gas geben?

Katzian: Das ist genau das, was ich als EGB-Präsident vorhabe. Ich bin zum Beispiel nicht gegen Freihandelsabkommen. Diese dürfen nur nicht dazu dienen, die vorhandene, ohnehin zu geringe soziale Sicherheit auch noch auszuhebeln.

STANDARD: Ein Beispiel.

Katzian: Wenn es etwa in einem Abkommen Sonderklagerechte für Konzerne gibt, die nationale Gerichtsbarkeit aushebeln können, ist das nicht in Ordnung. Wenn aber soziale und ökologische Standards definiert werden, wenn klar ist, dass Partnerländer ILO-Kernarbeitsnormen ratifiziert haben, dann kann man Ja dazu sagen, warum auch nicht. Wir brauchen das. Aber wir brauchen faire Spielregeln.

STANDARD: Was sind konkret Ihre wichtigsten Vorhaben?

Katzian: Ich will diese gesamte soziale Frage ankurbeln. Im Einkommensbereich können wir nicht nur auf die österreichische Lage schauen, sondern auf die europäische Ebene. Die Menschen haben massive Einkommensverluste erleiden müssen. Kollektivvertragsabschlüsse zwischen acht und zwölf Prozent wie in Österreich, die gibt es in den meisten Ländern nicht. Dazu kommen die massiven Einkommensverluste in der Zeit während der Corona-Pandemie. Es gab Kurzarbeitsregeln mit 60 Prozent Einkommensersatz und nicht mit 90 Prozent wie in Österreich. Da etwas zu unternehmen, eine neue Austeritätspolitik und Sparpakete zu verhindern, da müssen wir dringend etwas tun.

STANDARD: Und im regulatorischen Bereich?

Katzian: Der zweite große Bereich ist alles, was sich um die Arbeitszeit rankt, natürlich unter Berücksichtigung der nationalen Gegebenheiten. Und dann geht es drittens darum, dafür zu sorgen, dass Europa ein Industriestandort bleibt.

STANDARD: Geht es bei der Arbeitszeit um Kürzung, um die Viertagewoche?

Katzian: Arbeitszeitverkürzung ist natürlich immer ein Thema. Es geht aber auch um Arbeitszeitgestaltung. Wir haben in den europäischen Ländern sehr unterschiedliche Einschätzungen, auch bei den Gewerkschaften, von der Betroffenheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer her. Die Frage ist, braucht man bei den Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene neue Pflöcke, die eingeschlagen werden müssen, wie zum Beispiel beim Gesundheitsschutz, oder dass Leute als Folge der Digitalisierung am Arbeitsplatz nicht komplett überwacht werden dürfen. Die Umsetzung muss dann sowieso auf nationaler Ebene erfolgen.

STANDARD: Die Arbeitswelt in Europa wird von mehreren Seiten massiv bedroht, auch die Unternehmen. Demografisch, wir werden weniger, und es gibt die Migrationsproblematik. Europa hat in der Welt immer weniger Gewicht, neben China, den USA, Indien etwa. Und jetzt kommt noch der rasche digitale Wandel mit der künstlichen Intelligenz dazu. Millionen Jobs fallen weg. Wie sehen Sie das?

Katzian: Ich teile diese Sicht. Auf der nationalen Ebene gibt es als Gegenüber die Sozialpartner. Das fehlt mir auf der europäischen Ebene. Bei Business Europe, dem Unternehmerverband, ist mit Markus Beyrer als Generalsekretär auch ein Österreicher verantwortlich. Aber die sehen sich nicht als Sozialpartner, sondern primär als Lobbyorganisation. Das macht Lösungen auf europäischer Ebene etwas schwieriger. Wenn ich mir in Österreich mit Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer etwas ausmache und mit Handschlag abmache, dann gehen noch die Juristen drüber, wir unterschreiben und es hat Verbindlichkeit. Das gibt es auf der europäischen Ebene nicht.

STANDARD: Wäre das eine Zielsetzung?

Katzian: Es ist nicht so einfach, weil wir in den Ländern sehr unterschiedliche Kulturen zwischen Arbeitnehmern und den Unternehmen, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern haben. In Italien wird oft zuerst einmal gestreikt, und dann fangen sie an zu reden. Bei uns wird zuerst geredet. Es gibt unterschiedliche Streit- und Streikkulturen.

STANDARD: Zurück zu den Herausforderungen: Können Europas Wirtschaft und Industrie global ins Hintertreffen geraten?

Katzian: Die reale Gefahr sehe ich. Vieles hängt mit der geopolitischen Entwicklung zusammen. In dem Maß, in dem die USA, China, Indien, Brasilien und andere nach dem Motto "Wir vor allen anderen" vorgehen und ihre eigenen Industrien und die Entwicklung stärken, wird es schwieriger. Im Moment wird diesbezüglich die Welt gerade neu geordnet. Was Europa betrifft, sieht es so aus, dass wir scheinbar noch nicht genau wissen, wo wir hinwollen.

STANDARD: Woran liegt es?

Katzian: Zum einen sind wir nach wie vor sehr in den Nationalstaaten verwurzelt. Zum anderen ist es so, dass Russland geografisch immer unser Nachbar sein wird, egal wie der Krieg in der Ukraine ausgeht. Da stellen sich Fragen, wie sich Europa positioniert. Wir sollten nicht mit den Billigstproduzenten der Welt konkurrieren, sondern möglichst viel in Forschung und Entwicklung investieren. Und in die Bildung und Fortbildung der Menschen. Nur so können wir uns mit guten Produkten, guten Dienstleistungen, mit guter Software für diese Herausforderungen wappnen. Und dazu muss es gescheite soziale Rahmenbedingungen geben. Wir müssen den Übergang von den alten Industrien zur neuen Welt gestalten, so gestalten, dass die Menschen mitgehen können und eine Perspektive haben.

STANDARD: Was meinen Sie da konkret?

Katzian: Wenn man eine Verhaltensänderung wünscht, muss eine solche den Leuten auch möglich sein. Ein kleines Beispiel: Ich kann jemandem, der im tiefsten Waldviertel wohnt, wo zwei Mal am Tag ein öffentlicher Bus fährt, nicht sagen, dass er oder sie nicht mit dem Auto fahren darf. Wie soll der in die Arbeit, in die Schule, zur Ärztin oder sonst wo hinkommen? Da müssen eben entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden.

STANDARD: Ein zweites großes Thema ist die Überalterung des Kontinents, Europa braucht junge Arbeitskräfte, braucht Zuwanderung. Aber gerade im Bereich Migration und Asyl liegen die Staaten quer, es gelingt nicht, das in geordnete Bahnen zu lenken. Wie sehen Sie das?

Katzian: Fangen wir bei der demografischen Entwicklung an. Wir wissen ganz genau, wenn wir das Wohlstandsniveau halten wollen, wird das ohne Zuwanderung nicht gehen. Das weiß jeder, der es wissen will. Ich habe da mein Problem mit der Wirtschaft. Die sagt, es gibt einen Arbeitskräftemangel, wenn wir die nicht aus EU-Ländern kriegen können, müssen wir auf Drittstaaten ausweiten. Die Liste der Mangelberufe umfasst mittlerweile mehr als hundert Berufe. So, und wenn dann Menschen aus Drittländern kommen, hängt sich der politische Arm der Wirtschaft bei der FPÖ ein und sagt, das mit den Ausländern, das gehe nicht so weiter.

Katzian: "Wenn wir die Menschen nicht anständig behandeln, werden wir sie auch nicht kriegen."
Heribert Corn

STANDARD: Ein Klassiker in der österreichischen Debatte zu Asyl und Migration, starke Polarisierung.

Katzian: Zum einen werden sie gebraucht in der Wirtschaft, zum anderen werden sie als die bösen Ausländer hingestellt, nicht nur von der FPÖ. So wird das auf die Dauer aber nicht gehen. Es gibt mittlerweile Studien dazu, dass Leute in Drittländern gefragt werden, in welche Länder sie gerne arbeiten gehen würden, die dann antworten: sicher nicht nach Österreich. Dort sind wir nicht willkommen. Wir stehen da im Wettbewerb mit anderen Ländern. Wenn wir die Menschen nicht anständig behandeln, werden wir sie auch nicht kriegen.

STANDARD: Diese Polarisierung zu Ausländern und Flüchtlingen gibt es in Österreich seit gut 30 Jahren. Wie kommt man da endlich raus?

Katzian: Wenn ich die Antwort darauf aus dem Ärmel schütteln könnte, wäre ich sehr gefragt bei allen europäischen Partnern. Wir müssen uns mit dem offen auseinandersetzen, auch mit den Problemen, die es gibt. Man darf das nicht wegschieben. Den Menschen, die bei uns leben und die eine bestimmte Kultur haben, denen müssen wir zeigen, dass es auch noch andere Kulturen gibt, und dass das nicht das Schlechteste ist. Das gilt in beide Richtungen. In Wahrheit findet dieser Prozess laufend statt. Es gibt nicht wenige, die gegen die Ausländer schimpfen, aber jeden zweiten Tag zum Standl auf einen Dönerkebab gehen. Wir müssen uns auch die Frage stellen, ob man mit diesem Thema unbedingt Wahlkämpfe führen muss.

STANDARD: Welche Lösungen hätten denn die Gewerkschaften anzubieten?

Katzian: Wir müssen am besten dort beginnen, wo es konkrete Möglichkeiten gibt, etwa integrativ in den Betrieben miteinander umzugehen. Es gibt eine ganze Reihe von großartigen Initiativen auf betrieblicher Ebene. Viele Betriebsräte sind da sehr aktiv. Und dann ist es wichtig darauf zu achten, dass Menschen nicht in ihre eigenen Communities gedrängt werden, sondern sich viel stärker mit der breiten Gesellschaft vernetzen und integriert werden. Da müssen beide Seiten etwas dafür tun.

STANDARD: Es gibt Studien, dass sich der Zuwanderungsdruck auf Europa nicht zuletzt wegen der Klimakrise in den nächsten zehn Jahren noch vervielfachen wird.

Katzian: Umso mehr müssen wir bei der Bekämpfung des Klimawandels auch darauf achten, wie wir mit den Entwicklungen im Globalen Süden umgehen. Wie ermöglichen wir den Menschen dort, dass sie dort leben können? Das wird eine der großen Auseinandersetzungen sein. Wir werden uns als Gewerkschaften zusammentun und uns darauf einstellen. Es wird dazu eine Zusammenarbeit mit den USA und Kanada geben. Wir müssen uns auch damit beschäftigen, dass die Demokratien in der Welt weniger werden, nur noch ein Viertel der Staaten der Welt sind Demokratien. Mit denen müssen wir kooperieren, so unterschiedlich sie auch sind.

STANDARD: Zurück zum wirtschaftlichen Wandel, zum Arbeitsmarkt. Welche Probleme ergeben sich aus der Digitalisierung und nun auch der künstlichen Intelligenz?

Katzian: Das alles findet jedenfalls statt. Wir müssen uns fragen, was bewirken sie? Und was braucht es dazu an Regulierung. Das Thema Digitalisierung ist lange nur unter dem Aspekt diskutiert worden, was die neuen Geräte können, dass man sie nutzen und beherrschen kann. Wir haben weniger darauf geachtet, woher die Inhalte kommen, wie wir die Menschen aus- und laufend weiterbilden, dass sie zwischen Fake und Nichtfake unterscheiden können. Das wird mit dem Aufkommen der künstlichen Intelligenz nun immer schwieriger.

STANDARD: Lässt sich das überhaupt regulieren, oder sind die Regierungen da ohnehin immer zu langsam?

Katzian: Ich habe dieser Tage ein Interview mit einem der Entwickler von ChatGPT gelesen, und habe mir vorgenommen, dass wir eine europäische Arbeitnehmerkonferenz zum Thema KI machen. Dorthin werden wir diesen Mann einladen. Er sagt, dass man diesen Bereich unbedingt regulieren muss. Wir müssen diskutieren, was wir auf europäischer Ebene überhaupt regulieren können, und was es dann in der Umsetzung auf nationaler Ebene braucht. Es ist das eine unglaubliche Herausforderung. Wir sind mit den Regelungen immer hintennach.

STANDARD: Welche Auswirkungen auf die Arbeitswelt erwarten Sie?

Katzian: Man hat lange geglaubt, die Digitalisierung vernichtet Arbeitsplätze, alles geht den Bach hinunter. Aber wir sehen das mittlerweile nicht mehr so. Es werden sich viele Arbeitsplätze verändern. Es wird auf mittlere Sicht wahrscheinlich keinen Job mehr geben, bei dem künstliche Intelligenz nicht mit im Spiel ist. Aber durch Umschulung der Menschen wird es möglich sein, Jobs zu haben. Der Produktivitätsgewinn, der entsteht, muss natürlich aufgeteilt werden in Form kürzerer Arbeitszeit. Das entspricht auch dem Wunsch vieler Menschen.

STANDARD: Einfache Antworten gibt es also nicht?

Katzian: Ich bin überzeugt davon, dass die komplexen Herausforderungen unserer Welt auch nur komplex gelöst werden können. Dazu braucht es die Europäische Union. Wir müssen uns überlegen, was das für europäische Länder bedeutet, die nicht in der EU sind. Es muss Kernarbeitsnormen geben. Auf deren Basis muss auch der Welthandel halbwegs sozial und anständig organisiert werden. Dazu werden wir auch entsprechende transatlantische Abkommen brauchen.

STANDARD: Was bedeutet das alles jetzt für Österreich, dieses kleine, zentraleuropäische gelegene Land mit neun Millionen Einwohnern, dessen Parteien sehr zerstritten sind?

Katzian: Zum einen wäre es gut, wenn es gelänge, drei, vier Ecksteine von Zielen für Österreich zu definieren, auf die sich alle politischen Akteure einigen können, damit man dann nationale Schwerpunkte setzen kann. Ein Bespiel: Österreich soll Industrieland bleiben. Wenn das jeder unterschrieben kann, müsste man als nächstes sagen, wir definieren die fünf Schlüsselindustrien für die Zukunft. Und machen dafür alles, von der Grundbildung über die Berufsausbildung bis zu den Universitäten und weiter zu Forschung und Entwicklung, damit Österreich in diesen Bereichen richtig stark sein kann.

STANDARD: Bildung könnte so ein Eckpfeiler sein.

Katzian: Es ginge darum, pragmatische Lösungen zu suchen, nicht immer gleich den ideologischen Hammer auszupacken. Das würde es uns ermöglichen, in diesem großen Konzert überhaupt eine Rolle zu spielen.

STANDARD: Sprechen Sie einen nationalen Konsens an?

Katzian: In einigen wenigen Punkten. Über die Frage, was ein Industrieland im digitalen Zeitalter grundsätzlich braucht. Darüber sollte man diskutieren, kann man auch streiten.

STANDARD: Von wem sollte das ausgehen?

Katzian: Ich hoffe doch, dass die politischen Parteien sich dazu etwas überlegen. Aber auch die Sozialpartner könnten eine Rolle spielen.

Katzian: "Wir müssen uns auch damit beschäftigen, dass die Demokratien in der Welt weniger werden."
Heribert Corn

STANDARD: In Zeiten des EU-Beitritts in den 1990er-Jahren ist das streckenweise noch gelungen. Aber heute trauen sich die Parteien nicht über den Weg. In ihrer Partei, der SPÖ, geht es rund. Wie soll das gehen?

Katzian: Ich sehe das eh auch so. Dass mit einem Mal plötzlich alles anders wird, das wird so nicht funktionieren. Ich werde sehr froh sein, wenn die Diskussionen, die es in meiner Partei gibt, endlich einmal beendet sein werden, und dann hoffentlich wieder an einem Strang gezogen wird.

STANDARD: Angeblich noch diese Woche, wenn das Ergebnis der Mitgliederbefragung bekannt wird.

Katzian: Anders wird es jedenfalls nicht gehen. Alle beteiligten politischen Akteure müssen wieder miteinander reden und schauen, ob zu dem einen oder anderen Thema eine gemeinsame Sichtweise gelingt.

STANDARD: Wir wissen noch nicht, welche Person bei der SPÖ-Befragung auf Platz eins gekommen ist, unabhängig davon, was würden Sie Ihrer Partei in der Perspektive der europäischen Entwicklungen, die wir besprochen haben, empfehlen? Was ist die Aufgabe der Sozialdemokratie in den nächsten zehn Jahren?

Katzian: Gäbe es keine Sozialdemokratie, müsste man sie erfinden. Die Welt ist in einem riesengroßen Veränderungsprozess, Klimakrise, Digitalisierung mit Schwerpunkt künstlicher Intelligenz, wir haben die Migrationsthematik – das alles mit einem ordentlichen sozialen Rahmen zu gestalten, mit einem gut gewählten Netz der sozialen Sicherheit, das schreit nach einer Sozialdemokratie. Da sehe ich auch die Schwerpunkte, was nicht bedeutet, dass man die wirtschaftlichen Themen außen vor lassen kann. Ich habe das zumindest so gelernt: Man kann die Kuh melken, aber man soll sie nicht erschlagen.

STANDARD: Sie werden vier Jahre lang Chef der Europäischen Gewerkschaft, bleiben Sie auch ÖGB-Chef?

Katzian: Ja, so ist das besprochen. Andere kleinere Funktionen lege ich in den nächsten Monaten zurück.

STANDARD: Das heißt, was immer bei der Mitgliederbefragung rauskommt, als möglicher SPÖ-Chef scheiden Sie aus?

Katzian: Genau, das habe ich bereits mehrfach erklärt. (Thomas Mayer, 21.5.2023)