Die US-Philosophin und Feministin Nancy Fraser macht einem Untier namens Kapitalismus den Prozess: Dieses verschlingt alles – und zerstört den Planeten.

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Der Welt größte Heimsuchung, die unbezwingbare Hydra, die alle Sphären des menschlichen Zusammenlebens verheert: Der Kapitalismus, so Nancy Fraser, ist ein Allesfresser. Noch mehr aber ist er eine Art Trickbetrüger. Ein Trittbrettfahrer, der sich unterschiedslos alles aneignet, was Natur und Menschenfleiß, vorerst ohne Gewinnabsicht, füreinander bereithalten.

Fraser, US-Philosophin aus Baltimore, hat – selbst in der Mitte ihrer Siebziger stehend – jetzt ein Buch vorgelegt, das schon heute unter die Klassiker des Neomarxismus zu reihen ist. Der Allesfresser (im Original: Cannibal Capitalism) gleicht einer notwendigen Rückbesinnung. Fraser spricht unzweifelhaft in Marx- und Engels-Zungen. Sie versteht unter Kapitalismus nicht allein die Sphäre des Tauschs und der Wertschöpfung. Er bildet die weithin unangefochtene, autorisierte Gesellschaftsformation unserer Tage. Als solche ist er geschichtlich gemacht, den Menschen jedoch nicht als Schicksal unabwendbar aufgegeben.

Marx’scher Bart

Hinter oder unterhalb der Sphäre des Tauschs wird unaufhörlich produziert. Die Eigentümer der Produktionsmittel streichen fröhlich den Mehrwert ein, die Lohnarbeiter werden um den Gutteil der Früchte ihrer Arbeit geprellt. Das alles hat den guten alten Marx’schen Bart.

Doch Fraser identifiziert weitere Felder der Einflussnahme. Sie nennt Sphären, die bis vor kurzem vom Druck der Profitmaximierung ausdrücklich ausgenommen waren. Ab nun wird die "Vordergrundgeschichte" der Ausbeutung (Exploitation) um eine Reihe von Hintergrundgeschichten ergänzt. Diesen allen entspricht die nämliche Tendenz zur Enteignung. Man nennt diese Expropriation.

Das Kapital würgt, als nimmersatter Drache oder Ouroboros, den eigenen Schwanz hinunter. Es okkupiert Gebiete des Labsals und der Sorge, die eigentlich zur Wiederherstellung der Marktteilnehmer vorgesehen sind: zum Auffüllen leerer Magazine, zur Formung von Menschen, zur Ausbildung von Werthorizonten. Sorgearbeit geht jeder Warenproduktion voraus. Sie fällt zumeist in die Domäne unterjochter Frauen und bleibt schmählich unterbezahlt.

Lauter Fressattacken

Auch ohne linksdrehenden Jargon sind die Folgen des permanenten Heißhungers augenfällig. Fraser gibt sich nicht damit zufrieden, die notorischen Krisen des Kapitalismus besserwisserisch zu kommentieren. Längst bedrohen seine Fressattacken die Grundlagen des Zusammenlebens. Die "nicht ökonomischen Bedingungen für die Möglichkeit einer kapitalistischen Gesellschaft" werden okkupiert. Und für wenige profitabel gemacht.

Zur gewöhnlichen Ausbeutung gesellen sich Raubzüge. Sie führen weit hinaus, bis an die Peripherie des Systems. Entlang "rassifizierter" Trennlinien reißen sich die Marktführer Rohstoffe unter den Nagel. Sie verlagern Teile des Lumpenproletariats in Randzonen, oder sie schütten ihren kontaminierten Müll in die "Senken" des Globalen Südens.

Fraser, die Begriffsjongleuse, beschreibt die Beißwerkzeuge des Übeltäters. Seine wirksamste Form hat der Kapitalismus als Schuldenverteiler gefunden. Einzig durch die Anhäufung von Schulden bestreiten die Menschen ihren Konsum. Unbarmherzig extrahiert der Finanzkapitalismus Werte aus wehrlosen Bevölkerungsgruppen. Er dumpt und enteignet im Weltmaßstab.

Rückbau erwünscht

Der Lastenausgleich, den eine veraltete, nationalstaatlich organisierte Politik betreiben soll, hinkt hinterher. Dafür bringt die fortgesetzte Zerstörung der Lebensgrundlagen den Planeten zum Überkochen. Der Sozialismus, für den Fraser in ihrer Conclusio plädiert, müsste der kapitalen Schlange das Maul nachhaltig stopfen. Rückbau wäre gefragt: eine Neudiskussion dessen, was unter Gemeinwohl zu verstehen wäre.

Zu vergesellschaften wäre schlechthin alles. Ein "Sozialismus für unsere Zeit" müsste nicht allein die Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital überwinden. Er müsste ebenso "allmächtig" auftreten wie sein gefräßiges Gegenüber.

Es wäre im Interesse des neuen Sozialismus gelegen, Potenziale für Wohlbefinden, menschliche Freiheit und Glück aufzuspüren. Pflege, Naturschutz, demokratische Selbstverwaltung, sie alle müssten, so Fraser, zur "höchsten gesellschaftlichen Priorität" erklärt werden. Zu einem solchen Sozialismus sollte man keinesfalls Kommunismus sagen. Letzterer, ein auffällig gefräßiges Untier, wurde bereits 1990 erfolgreich zur Strecke gebracht. (Ronald Pohl, 22.5.2023)