Schauspielerin Marina Weis im "Museum der ungezählten Stimmen": Eine von ihnen ist jene von Marina Davydova.

Foto: Nurith Wagner Strauss

Es ist ein kleiner Abend – und doch wird er am Ende ganz groß. Wenn sich die Schauspielerin Marina Weis in die Mitte des Zuschauerraums stellt und die Geschichte einer Frau erzählt, die zum zweiten Mal ihre Heimat verliert, schält sich aus der politischen Geschichte ein privates Schicksal.

Über eineinhalb Stunden hat man da schon über die Entstehung des russischen Reichs, über Zaren und ihre Kronen, über ein Imperium und seine Trümmer erfahren, hat den widerstreitenden Stimmen gelauscht, den aufgebrachten nationalen Erzählungen von Ukrainern, Georgiern und Aserbaidschanern, und hat doch kein Gefühl bekommen für die Menschen und ihre Leben hinter den Machtkämpfen und Ideologien.

Doch dann erzählt Weis die Geschichte jener Frau, die sich diesen Abend ausgedacht und ihn arrangiert hat, von Marina Davydova, die Besucher der Wiener Festwochen als deren ehemalige Schauspieldirektorin kennen und Besucher der Salzburger Festspiele bald in derselben Funktion kennlernen werden (ab 2024). Viel hat man über sie und von ihr gelesen im vergangenen Jahr, von ihrer abenteuerlichen Flucht aus ihrer Moskauer Wohnung in den ersten Kriegstagen über Finnland nach Berlin. Wie Unbekannte ein rotes Z auf die Wohnungstür gesprüht hatten und Davydova mit gerade einmal einem Koffer aus ihrer Heimatstadt flüchten musste.

Die Zuschauer wechseln zwischen Bühne und Rang.
Foto: Nurith Wagner Strauss

30 Jahre lang hatte sie in Moskau gelebt und das dortige Theaterleben maßgeblich mitbestimmt, als Theaterkritikerin und Festivalmacherin, Dramatikerin und Dramaturgin. Was allerdings weniger bekannt war, ist die Tatsache, dass Davydova und ihre Familie schon einmal flüchten musste, 1990 aus der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku, der Stadt, in der sie als Tochter eines Armeniers und einer Russin geboren wurde und wo nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs ein neuntägiges Pogrom an der armenischen Bevölkerung wütete. Nur ein Bild konnte Davydova damals von all ihren Habseligkeiten retten, in die Wohnung zogen Fremde, die Bibliothek wurde zerstört, die Erinnerungen verblassten.

Aus ihrer Heimat wurde für die Russischsprachige Feindesland, in Moskau fühlte sich allerdings auch niemand für sie zuständig. Die Ausstellung eines Passes erinnert an Kafka, Grenzübertritte werden zum Spießrutenlauf. "Diesen Menschen gibt es nicht mehr", sagt Weis. Wenn sich Davydova am Ende im Wiener Odeon verbeugt, hat sie Tränen in den Augen – und manche Zuschauer ebenso.

So zahlenlastig und technokratisch das Museum der nicht gezählten Stimmen (so der Titel des bei den Festwochen Weltpremiere feiernden Abends), so persönlich und bewegend ist er am Ende. Als Theatertheoretikerin hat Davydova einen klaren dramaturgischen Bogen entworfen, und Zinovy Margolin hat ihr den dafür passenden Theaterraum gebaut: Hinter fünf Flügeltüren verstecken sich Herrschaftssymbole und Ikonen aus der Geschichte Russlands, die im ersten des fünfteiligen Abends erzählt wird. Die neutrale Stimme aus dem Off überschlägt sich bald aus Euphorie über die glorreiche Vergangenheit Russlands, aus Geschichtsschreibung wird Geschichtsklitterung, wird Propaganda.

Landkarten zur Beweisführung

Halb Museum, halb Theater, bewegen sich die Zuschauer zwischen Bühne und dem Rang, lauschen im zweiten Teil der Kakofonie der "Bruderstaaten", die sich zum jeweils größten Opfer Russlands bzw. des Sowjetreichs stilisieren und begutachten die Landkarten, die als Beweisführung herangezogen werden. Eine erste Engführung passiert im dritten Teil, der den politischen Protagonisten und deren Opfern gewidmet ist, wobei die Bilder Letzterer von der Decke fahren.

Ideologien und Ideologen bekommen so ein Gesicht, genauso wie der Terror und das Blutvergießen. Die "ungezählten Stimmen" sind ungehörte. Ihnen allen widmet Marina Davydova ihren Abend, der im politischen Weitwinkel anfängt und mit einer persönlichen Großaufnahme nach knapp zwei Stunden endet. Stark! (Stephan Hilpold, 23.5.2023)