Wer hätte das gedacht? Dichter Adelbert von Chamisso (1781–1838) stößt noch vor dem Evolutionsbiologen Charles Darwin auf das Phänomen der genetischen Variabilität und Artenvielfalt.

Imago/Kharbine-Tapabor

Vielen ist Adelbert von Chamisso als Erfinder der Märchenfigur Peter Schlemihl ein Begriff. Im Zuge eines faustischen Teufelspakts tauscht dieser seinen Schatten gegen lebenslangen Reichtum ein, fristet dafür allerdings ein karges Leben als Außenseiter. "Überschattet" von seinem literarischen Schaffen sind allerdings Chamissos bahnbrechende Erkenntnisse auf dem Gebiet der Botanik, Zoologie und Ethnografie.

600 Buchseiten können dies ändern: Mit Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage legt Wissenschaftsjournalist Matthias Glaubrecht nun ein spannendes Werk über bisher verborgene Aspekte aus der Vita des französischen Schriftstellers vor. Glaubrecht hat die Archive des Naturkundlichen Museums Berlin und die Staatsbibliothek Berlin durchforstet. Mithilfe von Chamissos Nachlass, allen voran den Weltreisetagebüchern, spürt er einer facettenreichen Persönlichkeit nach.

Der adelige Chamisso, der in den Wirren der Französischen Revolution seine Heimat verlassen muss, tritt in die Fußstapfen von Vorbild Alexander von Humboldt und beginnt mit dem Studium der Naturwissenschaften. Dem Entwurzelten wird die rätselhafte Natur zum Zufluchtsort. Im Exil stößt Chamisso noch vor dem Evolutionsbiologen Charles Darwin auf das Phänomen der genetischen Variabilität und Artenvielfalt.

Wer hätte geahnt, dass ein Märchendichter beim Untersuchen kleiner Manteltierchen im Atlantik das Phänomen des biologischen Generationswechsels entdecken würde? Wer hätte gedacht, dass er als Pionier in der Korallenriffforschung zu einem besseren Verständnis des Ökosystems und indirekt auch der Plattentektonik beitragen würde? Chamisso war ja bei seiner Expedition Zeuge einer Kurzklimakatastrophe, in der er das Aussterben einiger indigener Völker begründet sah.

Wirksam in Hawaii

Doch damit ist noch nicht alles gesagt. Chamisso war auch der erste Ethnograf, der die Grammatik der hawaiischen Sprache aufzeichnete. Zu gerne hätte man in Glaubrechts Buch auch mehr über die Umstände erfahren, die dazu führten, dass unmittelbar nach Chamissos Abreise von Hawaii bestimmte Bräuche abgeschafft wurden. So konnte über Frauen zuvor noch die Todesstrafe verhängt werden, wenn sie ihre Mahlzeiten in Anwesenheit der Männer einnahmen.

Aufgrund seines diplomatischen Geschicks verhindert Chamisso in der Bucht von San Francisco auch die Eskalation eines Konflikts zwischen den spanischen Kolonialmächten und seinen Expeditionspartnern.

Einfühlsam schildert Glaubrecht die persönlichen Herausforderungen auf dem russischen Schiff Rurik, denen Chamisso 1815 bis 1818 ausgesetzt war – auch, inwiefern Napoleons Expansionsbestrebungen Chamissos Schicksal mitgestalteten. Trotz seiner offenkundigen Faszination für den Ruhelosen hebt der Autor zugleich die Schattenseiten des ewig Heimatlosen mit den Siebenmeilenstiefeln hervor: etwa seine romantischen und eurozentristischen Vorstellungen à la Rousseau, die er auf die indigenen Völker projiziert. Oder wie er sich auf der Sankt-Lorenz-Insel der Grabplünderung schuldig macht, um einen Inuit-Schädel nach "Rassenterminologien" zu kategorisieren.

Er hinterfragt dann doch

Wahr ist auch: Die Aufzeichnungen zum Leben der Einheimischen sowie zu Chamissos erotischen Abenteuern halten sich zu Beginn der Reise in Grenzen. Erst später nehmen sie zu, und der Naturkundler hinterfragt immer öfter seine moralischen Absichten und seine eigene Position in einer neuen Weltordnung, die mit dem Wiener Kongress eingeleitet wird. Auch das wird evident in diesem gehaltvollen Sachbuch. (Christina Janousek, 24.5.2023)