Inge Booker, geboren in Berlin, wohnhaft in den USA, in ihrem früheren Schanghaier Wohnviertel Hongkou.

Foto: Johnny Erling
Heute, 60 Jahre später, besinnt sich die größte Stadt Chinas dieser Geschichte - und lädt Flüchtlinge von früher zum Besuch in ihr Exil Fernost ein.

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Als Inge Booker auf einem alten Foto das Schanghaier Cafe Louis sieht, kommen die Erinnerungen wieder: "Da gab es die beste Sahne!" Die 83-Jährige einstige Berlinerin erzählt von ihrem Exil in Fernost: "Am 13. Dezember 1942 heirateten mein Mann und ich." Das Geld reichte gerade aus, "um für unsere 15 Hochzeitsgäste je zwei kleine Stück Kuchen bei Louis zu kaufen. Mit Sahne".

Dabei sei ihr Zufluchtsort alles andere als Zuckerschlecken gewesen, schränkt die aus den USA nach Schanghai gekommene Jüdin ein. Inge hauste ab 1939 mit ihren Eltern im überfüllten Stadtviertel Hongkou nördlich der Innenstadt. So wie ihre Familie auch kämpften 20.000 europäische Juden - viele von ihnen aus Deutschland und Österreich - um ihren Platz zum Überleben zwischen 100.000 ansässigen Chinesen.

Eigentlich wollte Inge Booker, geborene Buchholz, nach ihrer Aufnahme 1948 in den USA nichts mehr von alten Zeiten wissen. "Ich lebe heute und für die Zukunft," sagte sie. Wozu sollte sie nach Schanghai fahren? Was könnte sie finden in ihrem einstigen Exil Fernost? Etwa die armselige Behausung, deren Gasse morgens stank, weil alle ihre Nachttöpfe zum Abholen herausstellten? Die Familie wohnte auf engstem Raum, im schwülen Sommer ohne Dusche, bedroht von Typhus und Ruhr. Nachts bissen sie Bettwanzen. Aber sie überlebten in China den Holocaust.

Es war Eva Hartwich (geborene Braunsberg), die Inge Booker überredet hat, mitzukommen. Eva hatte mit 16 Jahren Hannover verlassen - ihr Vater war damals schon sechs Jahre tot: Er hatte sich 1933 nach den Judenpogromen das Leben genommen. Beide Frauen hielten über die Webseiten der "Rickshaw Reunion" von Rene Willdorff Kontakt mit Schanghaier Leidensgefährten, von denen heute weltweit noch knapp 500 leben.

Als Willdorff zur "Reunion" in Schanghai einlud, folgten fast 120 "Schanghailänder" mit Kindern und Enkeln vergangene Woche dem Ruf zur Rückkehr. Viele waren einst auf Schiffen aus Triest, Genua oder Marseille nach Schanghai geflohen. Es war der einzige Hafen der Welt, der sie als Internationales Konzessionsgebiet ohne Einreisevisum an Land ließ.

Schanghai gedenkt

Viele Jahrzehnte wollte das seit 1949 von Kommunisten regierte China nichts mit dem Erbe der Judenrettung aus vorrevolutionärer Zeit zu tun haben. Jetzt ist die Stadtregierung stolz, dass Schanghai zum Schauplatz einer humanitären Großtat wurde. Vizebürgermeister Chi Hong preist die jüdische Kultur mit ihren Geschäften und Theatern. Die Flüchtlinge hätten aus der Not eine Tugend gemacht.

In Hongkou werden seit 2004 die Häuserfassaden renoviert. Pan Guang, Direktor des Schanghaier Zentrums für jüdische Studien, spricht von einer Stätte des Gedenkens, das sich Chinesen und Juden "für künftige Generationen bewahren wollen". Er sammelt Unterschriften: Die Unesco soll den Zufluchtsort als Weltkulturerbe anerkennen.

Initiativen zur Aufarbeitung des Schanghaier Exils kommen aber auch aus Europa. Etwa in Person Martin Wallners (20) aus Baden bei Wien, der Österreichs erster Gedenkdiener in China ist. Wallner will die Geschichte des Holocaust aus dem Blickwinkel von Fernost aufarbeiten. Daher zieht es ihn immer wieder in die einstige Hauptgeschäftsstraße des jüdischen Gettos von Schanghai.

Er will möglichst viel über das einstige Leben der 5000 österreichischen Juden erfahren, die meist um 1939 nach Schanghai flohen. Je mehr Licht auch aus China in das dunkle Kapitel der europäischen Judenvernichtung gebracht werden kann, desto "zuversichtlicher können wir sein, dass sich solche Barbarei nie wiederholt". (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8. 5. 2006)