Dialoge haben Schärfe klassischer Screwball-Komödien
"The West Wing" wurde in diesem Jahr nach der siebenten Staffel eingestellt – ein neuer Präsident wurde noch gewählt, dann starb aber überraschend John Spencer, der charismatische Darsteller des langjährigen Chief of Staff Leo McGarry, und die Einschaltquoten waren auch nicht mehr so berauschend. Die vorliegenden 154 Folgen können sich aber in jeder Hinsicht mit dem Hollywood-Kino messen: Die Dialoge haben die Schärfe klassischer Screwball-Komödien, die Plots sind dicht verwoben und doch klassisch konturiert, nur die Action ist gänzlich von außen nach innen geholt. Was das Blockbusterkino mit Spezialeffekten zeigt, zeigt die Serie als menschliches Drama. Und siehe da: Es ist wesentlich spannender.
Verschiebung in der Unterhaltungskultur
Der Erfolg von "The West Wing" steht symptomatisch für eine grundlegende Verschiebung in der Unterhaltungskultur. Denn in den vergangenen fünfzig Jahren hatten das Kino und das Fernsehen ganz gut arbeitsteilig funktioniert. Dem Kino war die Originalität zu Eigen, das Fernsehen ließ die guten Ideen dann in Serie gehen. In den 50er-Jahren stand der Western auf dem Höhepunkt. Dann kam Bonanza, und das Publikum machte es sich mit einem ganz und gar nicht mehr wilden Westen gemütlich.
Schub durch DVD
Heute ist es mit dem Primat des Kinos nicht mehr weit her. Im Gegenteil hat vor allem das amerikanische Fernsehen inzwischen viele populäre Formen so weit vorangetrieben, dass das Kino mit mehr als nur einem Auge ständig hinüberschielt. Tom Cruise, der ein gutes Sensorium für die Trends in seiner Industrie hat, hat nicht zufällig den Fernsehmann J. J. Abrams ("Alias", "Lost") für die dritte Ausgabe seines Mission-Impossible-Spektakels verpflichtet. Das neue Speicherformat DVD hat den Serien zusätzlich einen Schub verpasst. Sie werden nun nicht mehr in erster Linie dann gesehen, wenn sie ausgestrahlt werden, sondern je nachdem, welche Rezeption ihnen am besten entspricht: Die jeweils 24 Folgen der Thriller-Serie "24" zieht man an einem Intensivwochenende durch, die "Sopranos" werden zu einer ständig präsenten Ersatzfamilie, die "Desperate Housewives" mixen Mystery, Seifenoper und Drama zu einem Quotenhit und bei den "Simpsons" oder bei "Seinfeld" spitzen die Kulturwissenschafter ihre Bleistifte. Nicht alle in den USA erfolgreichen Serien werden nach Europa verkauft, und nicht alle in Europa erfolgreichen Serien sind den Hype wert, den sie auslösen.
Mut zum Risiko
Bei "The West Wing" fand sich nie eine Fernsehanstalt im deutschsprachigen Raum, die sich der Mühe unterziehen wollte, die rasenden Dialoge, in denen in einem Atemzug die Nuancen der amerikanischen Verfassung und das Elend des Singlelebens besprochen werden, zu synchronisieren. Die New-York-Sitcom "Seinfeld" fand ein ergebenes Nischenpublikum, wurde aber nie der Hit, der sie in den USA war. Die Pointe an der gegenwärtigen Hausse der TV-Serien ist, dass ausgerechnet in einem Metier, in dem es um Wiederholung und endlose Fortsetzung geht, die Bedingungen für größtmögliche Originalität entstanden sind. Die großen Networks und die Bezahlsender beweisen immer wieder Mut zum Risiko und werden dafür belohnt wie im Fall der Totengräber von "Six Feet Under". Große Teile des traditionellen Genre-Kinos sind ohnehin längst ins Fernsehen ausgewandert. Bei den Spannungsformaten ist das ganz offensichtlich, es gilt aber auch in anderen Bereichen. Die in Seattle spielende Sitcom Frasier – zwei überkandidelte Brüder, ein grantiger Vater, eine handfeste Haushaltshilfe, ein Hund und eine Geisterschwägerin – hat beinahe unbemerkt das Erbe des klassischen Melodrams angetreten.
Veränderungen des Publikumsverhaltens