Nur die "Prachtgewänder der Propaganda" halten den Kreml noch aufrecht, meint der deutsche "Focus"-Auslandskorrespondent und Autor Boris Reitschuster im derStandard.at-Email-Interview. Die angebliche Stabilität und die Popularität Putins hält Reitschuster für eine Illusion, der Kreml sei nervös. Die jüngste Gewalt gegen die DemonstrantInnen sei erst der Anfang, befürchtet er. Vor allem in der "Wagenburg-Mentalität" des Kremls sieht Breitschuster die größte Gefahr: "Wer es wagt, Putin zu kritisieren oder gar bei Wahlen gegen Putins Leute anzutreten, ist ein Feind Russlands. Da greift man zurück auf Traditionen aus finsteren Sowjetzeiten."

Auch er selbst wurde nach Erscheinen seines aktuellsten Buches "von offiziellen Stellen" gewarnt, sich "Sorgen" um seine Sicherheit zu machen.

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derStandard.at: Wladimir Tschurow, der Zentralen Wahlbehörde und Vertrauter Putins, hat kürzlich in einem Interview gemeint, für ihn sei "Gesetz Nummer eins", dass Präsident Putin immer Recht habe. Wohin kann dieser gefährliche Personenkult um Putin noch führen?

Reitschuster: Die kremlnahe Jugendorganisation "Naschi" stilisiert Putin beinahe schon zum Retters des Vaterlandes; sie vergleicht die Situation im Wahljahr mit 1941 – Hitlers Überfall auf die Sowjetunion. Liberale Putin-Kritiker wie Kasparow (Oppositionsführer und ehemaliger Schachweltmeister, Anm. d. Red.) und Kassjanow (ehemaliger Premierminister, Anm. d. Red.) werden als Faschisten dargestellt. Ich halte weniger den Personenkult für gefährlich – der hat bei weitem noch keine stalinistischen Ausmaße – sondern die Wagenburg-Mentalität: Wer es wagt, Putin zu kritisieren oder gar bei Wahlen gegen Putins Leute anzutreten, ist ein Feind Russlands. Da greift man zurück auf Traditionen aus finsteren Sowjetzeiten.

Beim Chef der Wahlbehörde, Tschurow – ein Schulfreund Putins – haben wir es wohl mit einem Kadavergehorsam zu tun, der weit über das ohnehin traurige übliche Maß hinausgeht. Spötter im Kreml sagen, er würde auf Befehl Putins auch dessen Labrador-Hündin Conny zur Wahlsiegerin erklären. Viele glauben, die Ernennung eines derart übereifrigen Befehlsempfängers spreche dafür, dass Putin ein paar gewagte Schachzüge in Sachen Wahlen vorhat.

derStandard.at: Können die bevorstehenden Wahlen unter diesen Voraussetzungen überhaupt etwas anderes als eine Farce werden?

Reitschuster: Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es in Russland – aber nüchtern betrachtet ist sie schon tot, keiner glaubt, dass die Wahlen fair ablaufen, mit gleichen Chancen für alle, fairem Zugang zu den Medien etc. Es wird wie ein Hundertmeterlauf sein, bei dem die unliebsamen Kandidaten Zentner-Gewichte am Fuß haben – die meisten wohl schon in der Kabine, damit sie gar nicht an den Start kommen. Wobei die Farce allein noch die harmlosere Variante ist.

Wenn heute die Kreml-Kritiker als Extremisten dargestellt werden, als Faschisten gar, wenn man die Gefahr durch die Wahlen mit dem Krieg vergleicht, dann spielen die Verantwortlichen hier ein ganz gefährliches Spiel mit dem Feuer. Bereits an diesem Wochenende ist bei den Demonstrationen Blut geflossen; so sehr ich hoffe, mich zu irren: Ich fürchte, es wird noch mehr Blut fließen.

derStandard.at: Interessiert sich die Mehrheit der russischen BürgerInnen überhaupt für die Wahlen?

Reitschuster: Wenig. Nach einer Umfrage des eher kremlnahen Instituts WZIOM interessieren sich 54 Prozent der Russen überhaupt nicht für Politik. 29 Prozent begründen dies damit, sie hätten ohnehin keine Chance, Einfluss zu nehmen, 27 Prozent meinten, Politik sei Sache von Berufspolitikern. Im letzten halben Jahr sank die Zahl derjenigen, die mit Freunden oder Kollegen über Politik redeten, von 46 auf 41 Prozent. 40 Prozent sagten bei der Umfrage, das politische Leben sei interessanter geworden als früher – ein Kuriosum, denn de facto haben wir statt einem politischen Leben heute eine Imitation desselben.

derStandard.at: Wie groß ist die Mobilisierungskraft und die realpolitische Bedeutung der "echten Oppositionen" tatsächlich?

Reitschuster: Auf der einen Seite hat sie keinen realen politischen Einfluss, auf der anderen Seite kann sie offenbar sehr viel bewegen – buchstäblich, wenn die Regierung 9000 Milizionäre in Marsch setzt, die Moskau Innenstadt in ein Aufmarschgebiet verwandelt und sogar Kinder und Rentner verprügeln lässt. So absurd und bitter das klingt: Der Kreml wertet die Opposition damit auf.

Wenn die Staatsmacht weiter mit Kanonen auf Spatzen schießt wie bei den letzten Kundgebungen, wird die Unterstützung für die Opposition und ihre Mobilisierungskraft steigen. Beim Anfang vom Ende des Kommunismus begann das gar nicht viel anders – die Mechanismen sind verblüffend ähnlich, vor allem die Fehler der Staatsmacht.

derStandard.at: Wie erklärten Sie sich das aggressive Vorgehen der Sicherheitskräfte, wo doch der Ausgang der nächsten Wahl bereits sicher scheint?

Reitschuster: Die angebliche Stabilität und die Popularität Putins sind eine Illusion. Wenn seine Kritiker im Fernsehen frei zu Wort kämen, wenn sie etwa die Fragen nach den geschäftlichen Verquickungen von den Leuten aus seinem nächsten Umfeld vor einem Millionenpublikum stellen dürften, wenn Korruption auf höchster Ebene ein Thema wäre, soziale Ungerechtigkeit, Beamtenwillkür – ich glaube, die Stimmung könnte sich sehr schnell drehen. Und genau davor hat der Kreml Angst. Er wirkt wie ein politischer Riese – aber er gleicht eher einem aufgeblasenen Ballon – ein Nadelstich kann ihn irgendwann zum Platzen bringen. Wie bei "Des Kaisers neue Kleider" – ohne die Prachtgewänder der Propaganda stände der Kreml ziemlich nackt da.

derStandard.at: Regierungskritiker Garri Kasparow wurde am Samstag vom Geheimdienst FSB vorgeladen. Was erwartete ihn Ihrer Meinung nach dort?

Reitschuster: Ich denke, es geht hier in erster Linie um Einschüchterung, genauso wie bei der Festnahme von Kasparow auf der Demonstration. Die Staatsmacht zeigt ihre Zähne. Putin setzte immer auf Stärke, schon in seiner Kindheit im Hinterhof in Petersburg hat er nach eigenen Worten gelernt, dass derjenige Recht hat, der stark ist. Das passt zu dem, was mir dieser Tage ein kremlnaher Politiker erklärte: "Es geht darum, zu zeigen, wer der Herr im Haus ist." In einer Demokratie würde man sich mit einem Kritiker wie Kasparow an einen Tisch setzen und versuchen, öffentlich seine Argumente zu entkräften. Offenbar traut der Kreml seinen Argumenten nicht.

derStandard.at: Sind Sie als ausländischer Journalist Repressionen ausgesetzt?

Reitschuster: Das Wort Repression halte ich für übertrieben angesichts der viel größeren Schwierigkeit, mit denen die russischen Kollegen kämpfen müssen. Es sind eher Nadelstiche. Der bürokratische Aufwand wächst ständig, alles wird ad absurdum geführt. Allein die Liste der nötigen Unterlagen für einen Mietvertrag bei der zuständigen Behörde umfasst fast eine DIN-A4-Seite.

Früher reichte eine Unterschrift. Früher musste man sich einmal im Jahr bei den Behörden registrieren – jetzt nach jeder Ein- und Ausreise. Und das läuft offiziell als Vereinfachung. Es ist oft einfach nur noch haarsträubend. Vor diesem Hintergrund finde ich es besonders bizarr, wenn der Kreml immer wieder andeutet, wir Auslandskorrespondenten würden eine Kampagne betreiben oder bestochen werden. Vielleicht sollte man uns einfach einmal anders behandeln und uns weniger Steine in den Weg legen. Frei nach Gogol: Man sollte nicht den Spiegel schelten, wenn er eine Fratze zeigt.

derStandard.at: Wie gefährlich ist es mittlerweile für Sie und Ihre (inländischen) KollegInnen, als JournalistInnen zu arbeiten?

Reitschuster: Nach Erscheinen meines Buches wurde mir angedeutet, ich hätte damit mein Todesurteil unterschrieben – vor allem wegen der Schilderung der Besitzverhältnisse im Umfeld Putins. Da sei absolutes Tabu-Thema. Selbst von hohen offiziellen Stellen kommen Attacken und Warnungen, ich solle mir um meine Sicherheit Sorgen machen. Das ist ungeheuerlich. Noch schlimmer ist, dass man sich daran gewöhnt.

Im Sommer 2006 musste ich am Rande einer Oppositions-Konferenz als Augenzeuge miterleben, wie Beamte in Zivil einen unter merkwürdigen Bedingungen festgenommenen Ordner der Opposition misshandelten, ihm den Kopf mit dem Knie gegen den Asphalt schlugen. Ich versuchte, zu intervenieren. Keinerlei Reaktion. Erst als ich fotografierte stürzte sich einer der Beamten auf mich, nahm mir meine Kamera weg. Als ich dann dem Wagen im Weg stand – ein Auto mit Polizeikennzeichen – fuhren sie einfach los, auf mich drauf. Ich konnte mich nur mit einem Sprung auf die Motorhaube retten, ließ mich dann seitlich abrollen. Die Staatsanwaltschaft weigerte sich zunächst, die Anzeige anzunehmen. Außer einer Befragung ist bis heute nichts passiert.

derStandard.at: Sie haben Wladimir Putin vor einiger Zeit interviewt. Wie sieht es kurz vor den aktuellen Wahlen mit der Auskunftsbereitschaft Kremlchefs aus?

Reitschuster: Er gibt kaum noch Interviews für Ausländer, stattdessen überwiegen sorgsam inszenierte Presse-Shows bei denen handverlesene Journalisten Schmeicheleien in Form von Fragen vortragen oder den guten Zar um Hilfe gegen die bösen Beamten bitten. Schon der Umgang der Miliz mit uns Journalisten deutet es an: Die Vorstellung von Presse als vierter Gewalt, von unabhängigen Journalisten, ist der heutigen Führung offenbar fremd: Sonst würde man uns anders behandeln, würde einen Dialog mit uns suchen.

Stattdessen ignorieren die Behörden regelmäßig Presseanfragen, ein echter Dialog findet nicht statt. Wenn die Machthaber heute überzeugt sind, es bei uns mit Auftragsschreibern zu tun zu haben, die eine Kampagne gegen Russland betreiben, macht es aus ihrer Sicht keinen Sinn, den Dialog zu suchen. Stattdessen beklagen sie sich bei unseren Politikern und Chefredakteuren. Das ist absurd – und eine völlige Verkennung der Realität. (Manuela Honsig-Erlenburg, derStandard.at, 23.4.2007)