Die Schweizerin Christine Nagel studierte Chemie, bevor sie Parfums, wie etwa Narciso Rodriguez for Her, komponierte.
Denis Boulze

Jacques Cavallier-Belletrud arbeitet für Louis Vuitton, Dior hat Francis Kurkdjian verpflichtet, und bei Chanel übernahm Olivier Polge von seinem Vater Jacques – ein Blick auf die renommierten Hausparfümeure der großen Luxusmarken zeigt: Die Welt des Dufts ist fest in männlicher Hand. Noch! Denn immer mehr Frauen reüssieren in dem Metier. So trat etwa 2016 Christine Nagel die Nachfolge von einem der großen Namen der Branche, Jean-Claude Ellena, an. Seither ist die Schweizer Parfümeurin für die Duftkreationen aus dem Hause Hermès verantwortlich. Davor hat sie sich um Parfums wie Miss Dior Chérie oder Armani Sì verdient gemacht. Außerdem komponierte sie gemeinsam mit Francis Kurkdjian den ikonischen Duft Narciso Rodriguez for Her. Ihr neuester Streich ist Teil der Gartenkollektion von Hermès, heißt Un Jardin à Cythère und ist der griechischen Insel Kythira gewidmet.

Chemiestudium statt Lehre beim Vater

Bis dahin war es ein weiter Weg für die 1959 Geborene. Damals wurde das Wissen über die Kunst der Parfumkomposition meist innerhalb der einschlägigen Familien aus Duftmetropolen wie Grasse von Vater zu Sohn weitergegeben. "In meiner Generation war es ein Hindernis, eine Frau zu sein. Es gab viel mehr männliche Parfümeure als weibliche", erzählt Nagel. Anstatt bei ihrem Vater, der Parfümeur war, in die Lehre zu gehen, schlug sie einen anderen Pfad ein und studierte Chemie. Was früher ein unüblicher Einstieg ins Duftmetier war, ist mittlerweile Grundvoraussetzung an vielen Parfümeurschulen. "Sie fordern mindestens zwei bis vier Semester Chemiestudium", sagt Vorreiterin Christine Nagel. Ihr Weg führte sie dann zum Schweizer Duftstoffhersteller Firmenich, wo sie Parfums auf deren Bestandteile hin analysierte. Doch erst in der Selbstständigkeit konnte sie ihre eigenen Düfte komponieren und wurde fortan von renommierten Marken engagiert. 2014 heuerte sie schließlich bei Hermès an und arbeitete an der Seite von Jean-Claude Ellena, der zwei Jahre später in Pension ging und an Nagel übergab. Damit ist sie neben Mathilde Laurent bei Cartier die einzige weibliche Hausparfümeurin einer großen Luxusmarke.

Duft ohne Gender

Doch dieser Umstand dürfte sich in Zukunft ändern. "The future is female" gilt auch für die Parfumbranche. Denn, so erzählt Christine Nagel, die Lage an den Ausbildungsstätten habe sich gedreht: "Vor kurzem waren die Jahrgänge rein weiblich. Noch immer sind die Frauen in der Überzahl, nur wenige junge Männer interessieren sich für das Metier." Ob ein Duft von einer Frau oder einem Mann kreiert wurde, könne die Expertin rein anhand der Komposition nicht erkennen. Sehr wohl jedoch errieche sie den individuellen Stil von "Nasen" wie Annick Menardo, Michel Almairac oder Daniela Andrier. Große Wertschätzung hegt Nagel auch für Germaine Cellier, die von 1909 bis 1976 lebte. "Sie arbeitete zu einer Zeit, in der Frauen nicht als Parfümeurinnen tätig waren. Doch noch mehr begeistern mich ihre wagemutigen Duftkreationen wie zum Beispiel Vent Vert. Sie hat die Branche nachhaltig geprägt wie kaum einer ihrer männlichen Kollegen" schwärmt Christine Nagel.

Mehr Experimentierfreude

Für mehr Mut und Experimentierfreude plädiert die Schweizerin auch im alltäglichen Umgang mit Parfum. Man solle sich nicht von Gender-Zuschreibungen abhalten lassen. So trage sie selbst auch gerne Düfte, die für Männer vermarktet werden, wie zum Beispiel H24 von Hermès. "Parfum ist generell 'genderless'", sagt Nagel. Nicht zuletzt würden die Unterteilung in Damen- und Herrendüfte in Parfümerien sowie die klischeehaften Werbesujets die Kundschaft hemmen und in ihrer Auswahl einschränken.

Dass Christine Nagel kein großer Fan von Marketingüberlegungen in Sachen Düfte ist, zeigt sich auch, wenn sie über die junge Generation von "Nasen" spricht. "Es fehlt nicht an Talent, aber man kann dieses oft nur sehr schwer erkennen, weil Kompositionen anhand von Marktforschungsergebnissen optimiert werden." Es komme zu einer Glattbügelung individueller Stile. Sie selbst hingegen befinde sich in der privilegierten Lage, Düfte ganz ohne Marketinginterventionen kreieren zu können. Kann man nur hoffen, dass es all die jungen Talente in eine ähnliche Position schaffen und sich frei entfalten können – egal, welchem Geschlecht sie angehören. (Michael Steingruber, 24.5.2023)