Als Peter Lehner vom Dachverband der Sozialversicherungsträger und der Ärztekammer-Vize Harald Schlögel sich beim STANDARD zum Diskutieren treffen, ist die Stimmung zwischen ihnen gut – trotz manch inhaltlicher Gegensätze, etwa bei Fragen zu Ambulanzgebühren, zur Digitalisierung und zum Wahlarztsystem.

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Gesundheitsserie
Harald Schlögel führt derzeit interimistisch wegen des Krankenstands von Johannes Steinhart die Bundes-Ärztekammer, Peter Lehner die Konferenz der Sozialversicherungsträger im Dachverband.
Regine Hendrich

STANDARD: Es fehlen in Österreich laut Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) 500 Kassenstellen. Wann kommen die?

Schlögel: Es braucht Anreize, im Kassensystem zu arbeiten. Nach dem Studium gibt es eine Drop-out-Rate von etwa 30 Prozent. Kolleginnen und Kollegen in der Ausbildung in Spitälern an Österreich zu binden wird zunehmend schwieriger. Nicht nur wegen der Rahmenbedingungen: Die Pandemie hat gezeigt, dass das Vertrauen in die Medizin gestört ist. Es fehlt an Wertschätzung für Gesundheitsberufe.

Lehner: Erstens braucht es in Österreich einen einheitlichen Gesamtvertrag (einen österreichweit einheitlichen Leistungs- und Honorarkatalog; Anm.). Da gibt es intensive Gespräche der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) mit der Ärztekammer. Als SVS haben wir diese Hausaufgabe erledigt. Wir Krankenversicherungsträger brauchen Spielraum, um zusätzliche Kassenstellen zu finanzieren. Über allem schwebt die Frage: Wie gelingt es, genügend Ärzte zu bekommen?

STANDARD: Wie sollen Ärztinnen und Ärzte für das öffentliche Gesundheitssystem gewonnen werden?

Schlögel: In Niederösterreich können wir knapp fünf Prozent der Stellen nicht besetzen. Wir haben bemerkt, dass Patienten ihre Wege trotzdem finden. Das kann man zur Kenntnis nehmen, man kann aber auch sagen, eigentlich wollen wir das Angebot in den Regionen stärken. Gerade junge Kolleginnen und Kollegen schreckt das freie Unternehmertum oft ab. Mit Primärversorgungseinheiten und Gruppenpraxen haben wir tolle Möglichkeiten geschaffen. Und wir müssen Patientinnen und Patienten lenken. Ich bin aber absolut gegen jedwede Form von Bestrafung im Sinne von Ambulanzgebühren.

Lehner: Aber wir haben ja Selbstbehalte bei SVS und BVAEB (Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahn und Bergbau, Anm.) – und sie funktionieren. Ich wünsche mir eine offene Diskussion, die derzeit nicht stattfindet. Jetzt ist es so, dass jene, die einfach in Spitalsambulanzen reinmarschieren, den bestmöglichen Zugang haben. Daher glaube ich, dass man über Selbstbehalte beziehungsweise Ambulanzgebühren durchaus nachdenken soll.

STANDARD: Der Gesundheitsminister will das Wahlarztsystem regulieren und Wahlärzte in Elga und E-Card-System einbinden. Wie sehen Sie das?

Schlögel: Der Begriff des Wahlarztes kommt von der Sozialversicherung, die sagt, wir haben ein Defizit in der medizinischen Versorgung im niedergelassenen Bereich, und Patienten, die beim Kassenarzt keinen Termin bekommen, erhalten 80 Prozent des Kassentarifs. Aus Sicht der Ärztekammer gibt es jetzt schon außerhalb des Kassensystems nur Privatärzte. Die Abrechnung einer Wahlarzthonorarnote obliegt dem Versicherten. Wenn man sagt, ein Privatarzt muss jetzt das E-Card-System akzeptieren und Elga, würde das heißen, dass ich nicht mehr freiberuflich tätig sein kann.

Lehner: Ich bin ein bekennender Freund des Wahlarztsystems. Ohne Wahlärzte wäre die Versorgung viel schlechter. Mit Beiträgen aus einem Solidarsystem muss es aber Spielregeln geben, eine ist die Teilnahme an der Digitalisierung. Es ist notwendig, dass wir die Gesundheitsdaten der Menschen haben. Wenn einer sagt, ich bin da nur privat, das geht keinen etwas an, ist das okay, aber eine reine Privatleistung.

Schlögel: Ein Kollege hat in seinem PVE festgestellt, dass zehn Prozent der Daten richtig sind. Zehn Prozent! Gesundheitspolitik auf nicht validen Daten aufzubauen ist eine Katastrophe. Die Kritik von uns ist, dass man den Ärzten sagt: So, jetzt hast du den Patienten vor dir und kannst in Elga alles durchforsten, welche Medikamente sind veraltet, welche Befunde relevant? Der Mehraufwand wird nicht abgegolten.

STANDARD: Der im Idealfall nur in der Umstellungsphase anfällt.

Lehner: Digitalisierung ist immer gut gemacht, wenn sie Prozesse verbessert. Wir sehen das beim E-Rezept. Da hat es geheißen, das ist mehr Arbeit. In der Praxis ist es eine Erleichterung.

Schlögel: Das E-Rezept ist wirklich eine Erfolgsgeschichte. Die Sozialversicherung könnte auch im Kassensystem die EDV zur Verfügung stellen. Die Kosten sind gewaltig.

Lehner: Für uns wäre es viel einfacher, es gäbe nur eine Art Software. Die Frage ist aber: Will man ein Monopol schaffen?

Schlögel: Sie haben ja schon eine Bevorzugung in der Gruppe, die durch den Kassenvertrag geschaffen ist. Eine weitere Bevorzugung könnte dahingehend sein, dass man sagt, mit Kassenvertrag bekommt man von uns das Standardisierte EDV-Programm. Sie hätten damit auch eine gewisse Datenhoheit.

Lehner: Es gibt auch viele, die sich nicht bis ins Detail in alle Daten hineinschauen lassen wollen.

Schlögel: Im Kassensystem bin ich wirtschaftlich dumm, wenn ich erbrachte Leistungen nicht erfasse.

STANDARD: Wird der angekündigte raschere Ausbau der Primärversorgungszentren nun gelingen?

Lehner: Die Förderungen sind sehr gut. Aber das neue Primärversorgungsgesetz ist noch in Begutachtung. Die Rahmenbedingungen sind nicht final geklärt. Und es löst nicht die Frage, ob es überhaupt genug Ärzte gibt, die das machen wollen.

STANDARD: Spielt die Ärztekammer mit?

Schlögel: Alles, das unseren Kollegen dient, die ihren Beruf ausüben, sehen wir positiv. Es ist aber rein rechtlich eine sehr, sehr komplexe Angelegenheit. Wir haben das Bundesgesetz und zum Teil völlig unterschiedliche Bundeslandregelungen. Wir als Ärztekammer haben kein einziges PVE verhindert. Wahrscheinlich hat die Politik hier einen Sündenbock gebraucht.

Lehner: Was ich mir nicht wünsche, sind neun unterschiedliche regionale Verträge. Wir haben da immer ein unfassbares Schrebergartendenken in unserer Republik.

STANDARD: Zum Thema Patientenlenkung: Die Gesundheitshotline 1450 soll ausgebaut werden, heißt es schon länger. Was dauert da so lange?

Lehner: 1450 hat einen großen Nachteil: Es ist länderweise organisiert. Wir müssen solche Dinge bundesweit einheitlich organisieren. Wobei die wirklich wesentliche Steuerung im Gesundheitssystem übernimmt der Hausarzt.

STANDARD: Es kann jeder ins Spital, ohne den Hausarzt zu konsultieren.

Schlögel: Jetzt in Österreich, ja, absolut. Es wäre eine Idee, dass man sagt, dass eine Ambulanz auch Patienten abweisen kann. Ich war lange genug selbst in einer Ambulanz, wo ich Patienten zum Teil gesagt hab: Bitte gehen Sie nach Hause oder zum niedergelassenen Arzt.

STANDARD: Herr Lehner, wie ernst war es Ihnen damit, dass die Sozialversicherung die Spitäler übernehmen könnte?

Lehner: Wir müssen hier eine Steuerungsfunktion übernehmen. Wir bezahlen Milliarden und wissen nicht, was dort passiert. Wir wissen nur, dass entgegen der Behauptung der Länder unsere niedergelassenen Frequenzzahlen viel stärker steigen als die Zahlen in den Ambulanzen. Das heißt, hier müsste es einen Effizienzgewinn geben, es gibt aber Kostenexplosionen.

Schlögel: Uns ist eigentlich egal, wer Träger des jeweiligen Krankenhauses ist. Das Problem ist, wie krankenhauslastig Österreich ist. Wir müssen nach OPs Akutbetten für pflegebedürftige Patienten bereithalten, weil entsprechende Pflegeeinrichtungen fehlen. Wir haben das große Problem mit der Pensionierungswelle des Personals. Also es braucht endlich entsprechende Weichenstellungen. Wir als Ärztekammer fürchten, dass es entweder zu gar keinem Abschluss kommt oder zu einem Fortschreiben des derzeitigen Zustands.

STANDARD: Die Wiener Ärztekammer hat angesichts der Probleme in den Spitälern Vorbereitungen für einen Streik getroffen. Ziehen andere Länderkammern nach?

Schlögel: Das ist eine Wiener Spezialität. Wien hat einen anderen Zugang, Verhandlungen zu führen. Ich sehe in keinem anderen Bundesland irgendwelche Tendenzen, jetzt in Richtung Arbeitsniederlegung, Streik oder Sonstiges zu gehen.

STANDARD: Was denken Sie, wie die Finanzausgleichsverhandlungen zwischen Bund und Ländern zum Gesundheitssystem ausgehen werden?

Lehner: Wir sind ja nicht Teil davon. Das fordere ich immer noch ein. Die Ärzte sind überhaupt gar nicht mit dabei, und die braucht man für jeden Schritt in einer Gesundheitsreform. Und wir haben eben nicht eine, sondern eine permanente Reform. Ob hier vernünftige Ergebnisse erzielt werden, daran zweifle ich. (Gudrun Springer, 30.5.2023)

ZU DEN PERSONEN:

PETER LEHNER (53) ist Obmann der Sozialversicherung der Selbstständigen (SVS), derzeit (die Funktion wechselt halbjährlich) Chef der Konferenz der Sozialversicherungsträger. Er war ÖVP-Wirtschaftsstadtrat in Wels.

HARALD SCHLÖGEL (61) ist Präsident der Ärztekammer für Niederösterreich und wegen der Erkrankung von Johannes Steinhart derzeit geschäftsführender Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer sowie HNO-Facharzt in einer Kassen-Gruppenpraxis in Mödling.