Im Gastblog schreibt die New Yorkerin Stella Schuhmacher über eine Begegnung mit einer 94-jährigen Frau im Fitnessstudio.

Beim ersten Fitnesscenterbesuch nach zweieinhalbjähriger Corona-bedingter Pause sehe ich zu meiner Freude Estelle wieder. Während des ersten Lockdowns, den Delta- und Omikronwellen konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, jemals wieder neben anderen in einem vollen Raum vor mich hinzukeuchen und zu schwitzen. Nicht so die 94-jährige Estelle. "Sobald mein Fitnessstudio im September 2020 wieder öffnete, kam ich zurück. Ich war die Erste, die dort war. Mein Trainer kam nicht. Ich trainierte in einem menschenleeren Studio", erzählt sie. Sie zögerte keine Sekunde. "Man kann nicht von Angst getrieben sein Leben leben." In ihrem Fitnesscenter auf der Upper West Side, in dem ein breites Spektrum der New Yorker Gesellschaft trainiert, ist Estelle nicht zu übersehen. Zwischen muskulösen, teilweise tätowierten Männern aller Altersgruppen, Studenten, Müttern, die die Kinderbetreuung des Studios in Anspruch nehmen können, oder aktiven Senioren sticht Estelle hervor.

Mit konzentriertem Gesichtsausdruck stemmt die 94-Jährige beachtliche Gewichte und läuft auf dem Laufband. "Alle sehen mich an und wollen wissen, wie alt ich bin", erzählt sie mit einem Grinsen. Das verrät sie allerdings nur ungern, denn: "Junge Männer flirten nicht mit mir, wenn sie mein Alter kennen." Seit zwölf Jahren trainiert sie einmal pro Woche mit ihrem Trainer. "Wir haben die Gewichte erhöht. Plötzlich hebe ich 50 oder 60 Pfund (22 oder 27 Kilo)", sagt sie stolz. Dabei ist sie sehr konzentriert. Unterbrechungen ihrer Trainingszeit mit ihrem Trainer schätzt sie gar nicht: "Ich sage allen, sie sollen nicht mit meinem Trainer reden, weil das Geld kostet. Zeit kostet Geld."

"Ich bin ein nettes, kleines jüdisches Mädchen"

Estelle ist ein echtes New Yorker Urgestein. Geboren wurde sie 1928 im Stadtteil Brooklyn und wuchs dann in Inwood in Manhattan in einem irisch-jüdischen Viertel auf. 1966 zog sie an die Upper West Side um, wo sie bis heute lebt. "Damals war die West End Avenue voll mit deutschen Flüchtlingen", erinnert sie sich. Estelle wuchs in einem konservativen jüdischen Elternhaus auf. "Ich bin ein nettes, kleines jüdisches Mädchen“, sagt sie. Zu den wichtigsten Feiertagen besuchte sie mit ihren Eltern die Synagoge. Nach deren Tod nicht mehr. "Früher ging ich zum Pessach-Seder ins Haus meines Bruders. Aber jetzt sind alle gestorben." Lediglich anlässlich von Jom Kippur zündet sie Kerzen an. An dem Tag wird traditionell gefastet, für Estelle kein Problem: "Ich faste sowieso immer." Estelle beschreibt ihre Mutter als eine "Balabusta". Das ist ein jiddischer Ausdruck, der eine gute Hausfrau beschreibt. Ihre Mutter erfuhr keine Zuneigung, konnte daher auch keine an ihre Kinder weitergeben. "Sie hatte kein leichtes Leben. Mein Vater starb, als ich ein Teenager war. Wir hatten kein Geld. Mein Bruder diente in der Armee."

Frau in Fitnessstudio.
Estelle nach ihrem Workout.
Foto: Stella Schuhmacher

Estelle war zweimal verheiratet und arbeitete in einer Werbeagentur. Musik und Sport waren immer schon ihre Leidenschaft. Sie spielte 30 Jahre lang Tennis und studierte Gesang. Für die Metropolitan Opera hat sie ein Abonnement. "Ich wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Dann hörte ich von der Börse und investierte Geld mithilfe eines tollen Maklers", erzählt sie. So kann sie sich bis heute ihre Hobbys und zahlreichen Reisen leisten. "Ich habe die ganze Welt bereist, außer Australien." Liebe und Zuneigung vermisste sie zeit ihres Lebens. "Weder von meinem Mann noch von meinen Eltern oder Bruder kannte ich das." Tränen steigen ihr bei diesen Worten in die Augen. Im Fitnesscenter verehren sie alle, was ihr gefällt. Gerne unterhält sie sich ausgiebig. "Aber ich bin es nicht gewohnt, dass die Leute nett zu mir sind."

Ein volles Wochenprogramm

Estelles Wochen sind durch ihre Workoutroutine strukturiert. Bei ihren Trainingseinheiten hört sie keine Musik. "Ich brauche keine Ablenkung. Ich habe genug Energie. Musik würde mich nur ablenken." Montags beginnt sie die Woche mit einem Workout, das aus Laufband und Gewichten besteht, gefolgt von einer Pilatesklasse. "Ich beginne am Laufband für 15 Minuten. Im Laufe der Jahre musste ich die Steigung aber verringern." Dienstags trifft sie ihren Trainer und besucht zusätzlich eine Spinningklasse. "Ich kann beim Spinning mit anderen mithalten", meint sie nicht ohne Stolz. Seit ein paar Monate reduziert sie jedoch die Zeit von 45 Minuten auf 30. "Ich versuche mich einzubremsen, denn danach gehe ich in den Supermarkt und schleppe die Einkäufe nach Hause." Wenn sie zu Hause ankomme, sei sie erschöpft. Den Mittwoch beginnt sie mit Wäschewaschen, um halb sieben in der Früh. "Ich bin sehr ordentlich und organisiert. In meinem Haus gibt es nichts Unorganisiertes." Danach geht sie ins Fitnessstudio, klopft ihre Routine herunter und schwitzt im Dampfbad. Donnerstags steht der Friseur auf dem Programm. Manchmal gönnt sie sich eine Massage. "Samstags bin ich dann früh da und besuche einen Spinningkurs", gefolgt von Gewichten und Stretching. "Ich bin locker zwei Stunden dort und kaufe dann Lebensmittel ein." Am Sonntag rastet Estelle: "Ich freue mich darauf, am Sonntag nichts zu tun. Ich lese und höre Opern. Meine Freunde schicken mir Bücher für meinen Kindle." Sie nimmt lediglich eine Mahlzeit pro Tag am Nachmittag zu sich und geht dann früh ins Bett.

Frau trainiert am Kabelzug.
Estelle beim Trainieren.
Foto: Stella Schuhmacher

Handys beim Training

Häufig beobachtet sie eine Nutzung von Handys im Fitnesscenter, mit der sie nicht einverstanden ist. Sie bedauert, dass das Management keine entsprechenden Memos verschickt. "Aber ich sage den Leuten: Wenn ihr auf einer Maschine sitzt und auf dem Handy herumscrollt, steigt von der Maschine ab und lasst sie von jemand anderem benutzen. Wenn Sie kein Arzt, keine Krankenschwester oder kein Anwalt sind, warum sollten Sie dann ein Handy im Fitnessstudio mit sich herumtragen?" Die allgegenwärtigen Smartphones verwirren sie. "Es ist ein Anhängsel und macht die Welt unangenehm." Mir gibt Estelle regelmäßig Stylingtipps und andere Ratschläge. Ich freue mich darauf, sie bald wieder beim Training zu sehen! (Stella Schuhmacher, 30.5.2023)