Lausanne/Wien – Der Traum von künstlichen Schnittstellen, die bei querschnittsgelähmten Personen Gehirn und Rückenmark wieder verbinden, ist nicht neu. Schon 1948 schrieb der US-amerikanische Mathematiker und Philosoph Norbert Wiener, Begründer der Kybernetik, über ein ähnliches Konzept. Die technischen Möglichkeiten waren damals weit entfernt. 

Ein bemerkenswerter Schritt auf diesem Weg ist nun dem Team von Grégoire Courtine der Schweizer École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) gelungen. Schon im Vorjahr zeigte es an neun querschnittsgelähmten Patienten, dass ein Implantat im Rückenmark beim Gehen half oder dies überhaupt ermöglichte (DER STANDARD berichtete). Dabei werden Nerven stimuliert, die bei der Muskelbewegung eine Rolle spielen.

Tetraplegiker Gert-Jan Oskam gewinnt mit dem ergänzenden Implantat an Lebensqualität.
CHUV / Gilles Weber

Nun berichtet die Gruppe im Fachjournal "Nature" über einen zweiten Meilenstein bei seinem 40-jährigen Patienten Gert-Jan Oskam. Der Niederländer hatte 2011 einen Fahrradunfall, wodurch seine Arme und Beine stark geschädigt und großteils gelähmt wurden. Er meldete sich als Testperson für Courtines Implantate und nutzte die Geräte, die beim Training Muskeln im Bein- und Hüftbereich stimulieren.

Wieder an der Bar stehen

Dadurch werden Nervenbahnen neu organisiert, die beim Gehen mit Rollator oder Krücken helfen. Rund 100 Meter konnte Oskam daraufhin eigenständig zurückliegen – binnen 15 bis 30 Minuten, aber ohne größere Beschwerden. Das demonstrierte er auch bei den internationalen "Wings for Life"-Wettläufen zur Förderung der Rückenmarkforschung. Nach mehr als drei Jahren stagnierten jedoch seine Fortschritte.

Eine neue Schnittstelle zwischen Rückenmark und Gehirn hilft ihm nun weiter. Diese digitale Brücke setzt an Elektroden in der Schädeldecke an, die Nervenaktivitäten messen und an einen tragbaren Computer weitergeben. Daraus wird quasi die gewollte Bewegung errechnet, kabellos an das ursprüngliche System weitergeleitet und in Impulse vom Rückenmark an die Muskeln übersetzt.

So gewann Oskam eine Kontrolle über seine Beine wieder, die sich für ihn natürlich anfühlt. Auch Gehen in nicht barrierefreiem Gelände, Treppensteigen und längeres Stehen sind ihm nun möglich. Dass er nun mit Freunden an einer Bar stehen und Bier trinken kann, wertet Oskam als "einfache Freude, die eine signifikante Veränderung in meinem Leben darstellt". Wurde die Schnittstelle zwischen Hirn und Rückenmark abgeschalten, verschlechterte sich die Gehfunktion. Manche kleine Verbesserungen, die Motorik und Sinneswahrnehmungen betrafen, blieben allerdings selbst dann erhalten.

Kritik an der Studie

Insbesondere die Weiterleitung in Echtzeit stellt eine wichtige Errungenschaft dar, sagt der Spezialist Rainer Abel vom Klinikum Bayreuth in Deutschland, der nicht an der Studie beteiligt war. "Bisher mussten Probanden intensiv beispielsweise an eine bestimmte Farbe denken." Dieses Signal sei vom Computer erkannt worden, der ein Bewegungsprogramm startete. Statt dieses Umweges müsse sich Oskam nur die geplante Bewegung vorstellen. Signale werden schnell genug verarbeitet, sodass komplexe Bewegungen wie beim Laufen ausgeführt werden.

Wie andere Fachleute warnt Abel jedoch vor Verallgemeinerungen und zu großen Hoffnungen. Lähmungsbilder sind bei Paralysebetroffenen unterschiedlich, die Übertragbarkeit eines Falls auf viele andere ist stark eingeschränkt. Bei Oskam sind die Nerven etwa nicht vollständig durchtrennt. Norbert Weidner vom Universitätsklinikum Heidelberg, der die Klinik für Paraplegiologie leitet und damit für querschnittsgelähmte Patientinnen und Patienten mit Lähmungen an Armen und Beinen zuständig ist, merkt kritisch den Bericht über einen einzelnen Fall an. Obwohl die Studie für zehn Patienten konzipiert war, sei nur einer behandelt und beschrieben worden. Es lasse sich "keine verlässliche Aussage treffen, ob und inwieweit die berichteten Effekte hinsichtlich Gehfunktion auf anderen Patienten mit Querschnittlähmung übertragbar sind oder gar Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen".

Auch handle es sich Abel zufolge um einen außergewöhnlich disziplinierten und angesichts des invasiven Eingriffs risikobereiten Patienten. Selbst bei dessen hoher Motivation sei nun "abzuwarten, ob der Aufwand – Kraft, Vorbereitung, Ausdauer – den Rollstuhl im Alltag überflüssig macht". Eine wichtige Veränderung, die auch vielen anderen in ihrer Mobilität eingeschränkten Personen helfen würde, wäre freilich, die Barrierefreiheit zu erhöhen und möglichst viele Hürden im Alltag zu beseitigen. (Julia Sica, 24.5.2023)