Während der Großteil der Bevölkerung wieder dem Alltag nachgeht, ist das für einen Teil jener, die sich mit dem Coronavirus infiziert hatten, längerfristig nicht möglich.
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Die Pandemie scheint wie vergessen. Längst nicht zu Ende ist die Krise allerdings für jene, die schon vor längerem an Corona erkrankten – und nie gesund wurden. Die Zahl der Long-Covid-Erkrankten variiert je nach Studie massiv. Schätzungen gehen davon aus, dass rund zehn bis 15 Prozent jener, die sich mit Omikron-Varianten infiziert haben, längerfristige Symptome entwickeln. Eine Impfung dürfte das Risiko senken. Die gute Nachricht: "Vielen geht es nach einem Jahr wieder besser", sagt der Neurologe Michael Stingl, der sich auf Long Covid spezialisiert hat, zum STANDARD.

Ein Prozent von über fünf Millionen

Eine Studie aus dem späten Vorjahr deute darauf hin, dass sich die Zahl der Betroffenen nach zwölf Monaten auf rund ein Prozent reduziert. "Das ist aber kein Grund zu feiern. Ein Prozent von über fünf Millionen Menschen, die in Österreich an Corona erkrankt und genesen sind, ist immer noch eine immense Zahl", sagt der Neurologe. Hinzu komme, dass viele immer noch unter Nachwirkungen leiden, aber arbeitsfähig sind und deswegen nicht in die Statistik fallen.

Die Symptome Betroffener können enorm variieren: Manche kämpfen mit Atemnot, andere mit Kopfschmerzen, wieder andere erkranken längerfristig an ME/CFS, dem chronischen Erschöpfungssyndrom. Sie sind ohne klaren Grund stets erschöpft und können kaum den Alltag bewältigen. Mittlerweile wisse man zwar viel mehr über die Symptomatik, von klaren Antworten sei man aber noch weit entfernt.

Noch immer überlastete Fachambulanzen

Ein großes Problem: "Unter Long Covid wird alles Mögliche in einen Topf geworfen", sagt Stingl. Eine eindeutige Definition gebe es nicht. Das erschwere die Forschung – und die Therapie. "Wir haben einen riesigen Mischmasch an Symptomen, der dazu führt, dass manche Kollegen es etwa als psychosomatisch einordnen. Und das gibt es sicher auch, aber dann ist das nicht Long Covid – das würde ich schon klar abgrenzen."

Insgesamt gebe es ein großes Angebot an Rehabilitationskliniken – "das Problem sehe ich allerdings im Angebot der Fachambulanzen", sagt Stingl. Wer an den Krankenhäusern zu den Long-Covid-Ambulanzen will, muss teils Monate warten.

Nicht zu ignorieren

Stingl mahnt davor, die Situation zu ignorieren: "Die Anfragen, die ich bekomme, sind anhaltend immens. Ich musste einen Aufnahmestopp machen", erzählt er, auch weil die Betreuung von Betroffenen so zeitintensiv sei. "Nur weil die Pandemie offiziell beendet ist, ist Long Covid nicht vorbei." Ähnliche Erfahrungen hätten Fachkollegen.

Und dann wäre da die Sache mit der Armut: Wer an Long Covid erkrankt, droht komplett aus dem Leben zu fallen. Betroffene leben von Reha-Geldern – so sie diese genehmigt bekommen. Stingl berichtet von jungen Patientinnen und Patienten, die gerade Familien gegründet haben und plötzlich nicht mehr arbeiten können. "Da trägt der Staat die Verantwortung", sagt er. Anders als bei Erkrankungen, die den Lebensstil betreffen, könne ihnen bei einem viralen Infekt keine Eigenverantwortung zugeschoben werden. (Muzayen Al-Youssef, 1.6.2023)