Influencerin Autorin Christl Clear
Die Influencerin Christl Clear hat nie ein großes Thema daraus gemacht, dass sie Psychotherapie in Anspruch nimmt.
Helena Lea Manhartsberger

Die Uhr tickt. Geht es um die mentale Gesundheit, sei es in Österreich nicht fünf vor, sondern eigentlich schon fünf nach zwölf. Davon ist man zumindest beim Österreichischen Dachverband für Psychotherapie überzeugt – und meint damit: Hierzulande wird zu wenig im Kampf gegen psychische Probleme unternommen. Dabei wäre das so wichtig wie nie zuvor. Im Jahr 2030 werden nämlich drei der fünf schwerwiegendsten Erkrankungen psychischer Natur sein, das prognostizieren Fachleute der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Eigentlich hätte man längst ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur Hand, um viele dieser Krankheiten zu behandeln bzw. sogar ihnen vorzubeugen: Psychotherapie. Sie wirkt nachweislich, ist aber bis heute nahezu ausschließlich jenen vorbehalten, die sich das leisten können. Vollfinanzierte Psychotherapieplätze sind in Österreich nämlich kontingentiert, derzeit stehen nur für ein Prozent der Österreicherinnen und Österreicher krankenkassenfinanzierte Therapieplätze zur Verfügung. Alle anderen müssen zahlen oder warten. Es müsse selbstverständlich werden, dass man bei Leidensdruck Psychotherapie bekommt und das von der Kasse finanziert wird, betont der Bundesverband für Psychotherapie und fordert die Abschaffung der Kontingentierung.

Aber es gibt noch einen Grund, warum viele psychischen Krankheiten unbehandelt bleiben. Nach wie vor gilt es für viele als ein Zeichen von Schwäche, sich Hilfe mittels Therapie zu holen. Dabei machen unbehandelte Probleme noch kränker, sagt die Forschung.

Zur Entstigmatisierung trägt laut Experten bei, wenn Menschen, denen man sich nahe fühlt, über mentale Gesundheit und Psychotherapie sprechen. Erkennt man sich in anderen wieder, schrumpfen Vorurteile. Das gilt nicht nur für Familie und Freunde, betonen Fachleute, sondern auch für prominente Persönlichkeiten. Sprechen Influencerinnen, Sportler oder Sängerinnen offen und ehrlich über ihre Probleme und Herausforderungen, enttabuisiert das. Dadurch könnte es irgendwann ganz normal – und im besten Fall auch leistbar – werden, sich nicht nur bei körperlichem Leiden Hilfe zu holen, sondern auch bei Seelenschmerzen.

Content-Creator Christl Clear (40): "Es ist okay, nicht mehr zu können"

Es war Ende November 2022, als die Ärzte in der Kinderwunschklinik meinten, sie wüssten nicht, ob ich noch weitermachen soll. Ich hatte schon so viele Versuche hinter mir, meine mentalen und körperlichen Kapazitäten waren ausgereizt. "Wissen Sie was? Es ist okay, wenn Sie nicht mehr können", sagte der Arzt. Das war es. Ich konnte nicht mehr, wollte es aber lange nicht aussprechen. Das fühlt sich nach Aufgeben an – und ich gebe nicht gern auf. Wahrscheinlich hängt das auch damit zusammen, dass ich eine Frau bin und in unserer Gesellschaft schnell gelernt habe: Wir müssen uns immer durchbeißen, und am Ende geht es ja eh oft irgendwie. Diesmal ging es nicht mehr – und es fühlte sich so befreiend an, das auch auszusprechen. Natürlich habe ich einen Partner, der mich unterstützt. Aber diese Gefühle muss man trotzdem allein aussitzen, vor allem wenn der unerfüllte Kinderwunsch in erster Linie am eigenen Körper liegt. Da tat es gut, mit jemand Neutralem zu reden, eine Therapie zu machen.

Vor acht Jahren war ich nach dem Tod meines Vaters an einem ähnlichen Punkt, habe mich aber irgendwie rausgewurschtelt und bin erst wesentlich später in Therapie gegangen, als ich hätte sollen. Das passiert mir jetzt nicht mehr, ich sehe halbwegs regelmäßige Therapie als eine Art mentale Gesundenuntersuchung.

Der wichtigste Rat: Den habe ich schon vor über 15 Jahren bekommen, ich war damals schon ab und zu in Therapie. Die Therapeutin hat mich gefragt, warum ich zu jemandem, der nicht nett zu mir ist, netter bin als zu mir selbst. Es ist damals um irgendeinen Typen gegangen, und im ersten Moment dachte ich: Na ja, weil ich ihn liebe?! Aber ein paar Stunden später kam die Erkenntnis: Sie hat so recht, wenn sie mir sagt, dass ich mich so behandeln soll, als wäre ich die Liebe meines Lebens. Das klingt abgedroschen, hat aber viel dazu beigetragen, dass ich heute so viel Selbstbewusstsein und einen hohen Selbstwert habe.

Musiker Paul Pizzera Kabarettist Autor
Der Musiker, Kabarettist und Autor Paul Pizzera spricht heute offen über seine Erfahrung mit Psychotherapie.
Ulrike Rauch

Musiker Paul Pizzera (34): "Ich habe nur noch funktioniert"

Rückblickend ist der Punkt, an dem ich ohne fremde Hilfe einfach nicht mehr konnte, klar: Ich bin damals nur noch aufgestanden, um auf die Bühne zu gehen. Ich habe den ganzen Tag im Bett verbracht und aus Schutz geschlafen. Ich habe mich in einen Kokon zurückgezogen, damit niemand merkt, wie schlecht es mir geht – am wenigsten ich selbst. Als mir das bewusst wurde, habe ich realisiert, dass es höchste Zeit war zu handeln.

Wahrscheinlich hatte ich bis dahin einfach zu lange Angst davor. Dabei habe ich es immer unterstützt, wenn mir Freunde erzählten, sie würden in Therapie gehen. "Ja, super", habe ich dann gesagt. Aber auf die Frage, ob ich das nicht auch mal machen würde, war die Antwort klar "Nein, ich brauch das nicht." Das ist klassisch österreichisch, mit voller Hose ist leicht stinken. Ich weiß es jetzt besser.

Der wichtigste Rat: Ich predige mir zwei Ratschläge, die ich in meiner psychotherapeutischen Behandlung erhalten habe, wie eine tibetanische Gebetsmühle vor. Sie helfen mir dabei, Enttäuschungen und Kränkungen besser zu verarbeiten: 1.) Sie wissen es einfach nicht besser. 2.) Was Hans über Hänschen erzählt, sagt mehr über Hans aus als über Hänschen. Das stimmt nicht immer, aber oft, und geht in beide Richtungen. Wie ich über andere rede, sagt oft viel mehr über mich selbst aus als über diese Person.

Sängerin Ina Regen
Ina Regen lernt ein der Therapie, sich selbst eine gute Freundin zu sein.
APA/HANS KLAUS TECHT

Sängerin Ina Regen (38): "Ich war in einer Negativspirale gefangen"

Mit Ende 20 war ich an einem Punkt, an dem ich gemerkt habe: Ich komme da nicht allein raus. In meinem Kopf war eine permanente negative Gedankenspirale, sie kam immer wieder, und ich hatte kein Werkzeug, um damit umzugehen.

Heute weiß ich, dass ich überfordert war von dem Gefühl, erwachsen sein zu müssen. Die Welt um mich glaubte, ich sei schon erwachsen. Und ich selbst dachte mir auch, jetzt müsste ich doch bald einmal mein Leben im Griff haben. Aber wie geht Erwachsensein?

Dazu kam, dass in dieser Zeit so viel in meiner Welt auseinanderfiel: Eine Beziehung ging zu Ende, im Berufsleben hatte sich viel verändert, und – das hat das Fass zum Überlaufen gebracht – ich habe einen wichtigen Menschen verloren. Irgendwann wusste ich: Ich brauchte jemanden mit Blick von außen und dem richtigen Spiegel für mich.

Der wichtigste Rat: dass ich meine beste Freundin bin. Daraus ist ganz viel Mitgefühl entstanden, wie ich es eben auch meiner besten Freundin entgegenbringen würde. Ich muss nicht so streng mit mir sein, ich darf alte Glaubensmuster von früher aufgeben und mich verändern. Ich kann meine Vergangenheit zwar nicht ändern, aber ich kann in jedem Moment beginnen, meine Geschichte anders zu schreiben. In diesem Gedanken steckt für mich große Hoffnung.

Autorin Trans-Aktivistin Phenix Kühnert
Der Autorin Phenix Kühnert holte sich mittels Psychotherapie Hilfe bei der Identitätssuche.
Regine Hendrich

Autorin Phenix Kühnert (27): "Ich kannte meinen Weg nicht"

Als ich begonnen habe, mich mit meiner Transidentität zu beschäftigen, war mir schnell klar, dass das Internet für mich nicht die beste Quelle ist. Ich brauchte jemanden, der mir gegenübersitzt, mir meine Fragen beantwortet und mir hilft.

Mit Anfang 20 bin ich das erste Mal zu einer Psychotherapeutin gegangen. Ich erinnere mich noch gut an diese Zeit: Ich wusste nicht so recht, wie mein Weg weitergehen könnte. Die Therapie war der erste Stopp auf meinem Weg zur "Lösung", wenn man so möchte. Glücklicherweise wird in meiner Familie und Freundeskreis Psychotherapie nicht tabuisiert, im Gegenteil. Mein Umfeld und ich würden am liebsten alle in Therapie schicken, das könnten viele wirklich gut gebrauchen.

Der wichtigste Rat: Es ist eigentlich kein klassischer Ratschlag und klingt fast ein bisschen banal: Meine Therapeutin hat mir geholfen, zu verstehen, dass meine Gedanken frei sind. Ich darf in meinem Kopf grundsätzlich einmal alles denken und fühlen, was auch immer ich möchte. Das geht niemanden etwas an, und das gibt mir ganz viel Freiheit, die ich mir davor lange nicht zugestanden habe. Und noch etwas habe ich für meinen Alltag mitgenommen, eine Erkenntnis: Solange mir eine erwachsene Person nicht kommuniziert, dass es zwischen uns ein Problem gibt, solange ist da auch keines.

Alexander Pointner Vierschanzentournee Innsbruck
Der Ex-Skispringer und Trainer Alexander Pointner litt unter Depressionen.
imago/Sammy Minkoff

Ex-Skispringer Alexander Pointner (51): "Ich war völlig überlastet"

Das Ereignis, das das Fass zum Überlaufen gebracht hat, war der Suizid unserer Tochter. Ich war aber schon davor in meiner beruflichen Karriere immer wieder sehr überlastet und litt auch unter Depressionen. Es hat lange gedauert, bis ich das erkannt habe.

Über psychische Probleme wird viel zu wenig gesprochen, viele Menschen lassen ihre Sorgen innerlich aufstauen, bis diese alles andere überdecken. Dadurch entsteht aber der Eindruck, dass man der Einzige mit solchen Themen ist. Spricht man selbst offen darüber, dann erzählen bald auch andere, und man merkt: Jeder Mensch hat seine Kämpfe.

Man braucht professionelle Hilfe, weil man sonst immer wieder in die gleichen Muster zurückfällt. Die kommen ja meistens schon aus der Kindheit und tauchen auf, wenn man besonders unter Druck ist. Für mich ist es mittlerweile ganz selbstverständlich, dass ich über meine Therapieerfahrung spreche. Ich käme ja, wenn ich mir den Arm breche, auch nicht auf die Idee, den Arm zu Hause zu schienen und dann unter einem Pullover zu verstecken.

Der wichtigste Rat: Es gibt nicht den einen Tipp, der alles gutmacht. Es dauert, bis es einem wieder besser geht. Aber mir hat geholfen, als mein Therapeut meinte, ich müsse auch andere Bühnenbilder zulassen, Dinge tun, die mir Freude machen. Ich habe nach dem Tod unserer Tochter gar nichts mehr unternommen, was mir Freude gemacht hat, mit dem Argument, das bringt ja nichts, alles ist gerade furchtbar. Aber es ist wie im Sport: Wenn ich nur trainiere und nie Pause mache, bin ich bald überlastet. Die Psyche braucht diese Pause auch. Klar, der Schmerz geht nicht weg. Aber in der Zeit, in der ich mich ablenke, kann sie sich zumindest ein bisschen erholen. (Magdalena Pötsch, Pia Kruckenhauser, 27.5.2023)