Bei der derzeitigen Weltlage möchte man sich am liebsten verkriechen.
Guillaume Lavrut

Wer in früheren Jahren kein Anhänger der pessimistischen Philosophie von Arthur Schopenhauer war, ist es zuletzt wohl geworden. Wie kann man angesichts von Krieg, Energiekrise, Inflation, Gesundheitsnotstand, Ungleichheit, Kinderarmut, politischer Polarisierung, der drohenden Klimakatastrophe und der Gefahr durch künstliche Intelligenz (KI) noch daran zweifeln, dass wir in der schlechtesten aller möglichen Welten leben? Wir taumeln von Krise zu Krise, verlieren das Vertrauen in die Wissenschaft, den technologischen Fortschritt, die Politik und überhaupt die Fähigkeit der Menschheit, ihre Zukunft zu gestalten.

Wer nicht in den Chor der Klagen und Schreckensprognosen einstimmt, gilt als naiv oder unehrlich und bekommt bestenfalls ein resigniertes "Dein Wort in Gottes Ohren" zu hören. Die Lage ist schlecht, unser Wohlstand brüchig, die Krisen sind allgegenwärtig. Kein Wunder, dass psychische Probleme um sich greifen und die Bereitschaft wächst, rechten Rattenfängern in die Scheinwelt der einfachen Lösungen zu folgen.

Von Krise zu Krise

Stopp, möchte man in diesem Augenblick rufen. Nichts von dem, was hier geschrieben steht, ist falsch. Aber es ist unvollständig und verzerrt. Die Welt ist nicht schlechter geworden und die Zukunft nicht bedrohlicher. Wir stolpern seit jeher von Krise zu Krise. Wer in der Vergangenheit nach Zeiten wühlt, in denen es uns besser ging, wird nicht fündig werden.

Die Krise des Jahres 2023 ist – abgesehen vom Krieg im Osten Europas, an den sich viele schon gewöhnt haben – die Teuerung. Im Vorjahr war es schlimmer: Wir hatten Angst vor einem Winter ohne Gas und nahmen Wladimir Putins atomare Drohungen noch ernst. Die beiden Vorjahre lebten wir im Banne des Coronavirus – der schärfste Einschnitt in unser Leben seit Menschengedenken.

2019 war in Österreich ein relativ entspanntes Jahr – wäre da nicht die Erderhitzung, die damals so richtig ins Bewusstsein trat. Die Jahre davor waren von den Nachwirkungen der Flüchtlingskrise geprägt, die im Sommer 2015 mit voller Wucht ausgebrochen war und tiefe Verwerfungen nach sich zog. Der Brexit und Donald Trumps Wahlsieg brachten 2016 zwei Grundfesten der politischen Ordnung ins Wanken – der Fortbestand der Europäischen Union und die Zukunft der liberalen Demokratie.

Lehman nicht vergessen

2015 stand Griechenland wirtschaftlich am Abgrund, der letzte Ausläufer jener Euroschuldenkrise, die seit 2010 den ganzen Kontinent verstört hatte. Und sie folgte direkt auf das größte wirtschaftliche Desaster seit den 1930er-Jahren, in das die US-Immobilienkrise und die Lehman-Pleite im September 2008 Welt gestürzt hatten – die Weltfinanzkrise. Und davor? Da überschatteten die Terrorangriffe des 11. September 2001, die Kriege in Afghanistan und Irak sowie der islamistische Terror, der auch Teile Europas erfasste, unsere Welt.

Rückblickend waren die 1990er-Jahre aus westlicher Sicht goldene Zeiten, wären da nicht die Jugoslawienkriege gewesen, die das Blutvergießen noch näher an uns heranbrachten als der russische Überfall auf die Ukraine. Die 1980er-Jahre waren wiederum geprägt von akuter Angst vor einem alles vernichtenden Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion sowie der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, und in Österreich erschütterte die Verstaatlichtenkrise eine Säule der Nachkriegswirtschaft.

Nostalgie versus Lebensstandard

Davor lagen die 1970er-Jahre, an die heute vor allem mit Bruno-Kreisky-Nostalgie erinnert wird. Das waren die Jahre der doppelten Ölkrise, der Dauerinflation – eine Zeit, in der die Einkommen zwar wuchsen, aber der Lebensstandard mit dem heutigen nicht vergleichbar war. Die Wohnungen waren schäbiger, die Arbeitsplätze schmutziger, die Autos unbequemer, der Straßenverkehr tödlicher, die Nahrungsmittel ungesünder, die Luft verpesteter, die Telefonleitungen ständig besetzt, Urlaube teurer, Flugreisen meist unleistbar – und die Lebenserwartung mehr als ein Jahrzehnt niedriger als heute. Männer starben reihenweise in ihren 60ern an Herzinfarkten, eine Brustkrebsdiagnose bedeutete für Frauen meist den Tod. Kinder, die damals keine Überlebenschance hatten, werden dank der modernen Medizin heute gesunde Erwachsene.

Nur wenige Kilometer östlich von Wien verlief der Eiserne Vorhang, und dahinter lag eine Diktatur, deren Unterdrückungsmaschinerie alle heutigen Autokratien übertrifft. Selbst in den westlichen Demokratien war die Möglichkeit, ein Leben abseits traditioneller Normen zu leben, stark eingeschränkt. Das bekamen vor allem Homosexuelle und andere Minderheiten zu spüren. Und wer Armut, Hunger und Tod im globalen Süden beklagt, darf die ungeheuren Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte für fast die ganze Menschheit nicht vergessen, die selbst die beklagenswerten Rückschritte während der Pandemie nicht zunichtegemacht haben.

Der Stress regiert

All diese nüchternen Fakten ändern nichts am finanziellen und psychologischen Stress, den horrende Gasrechnungen und teure Lebensmitteleinkäufe bei vielen Menschen auslösen, oder entkräften nicht die Sorgen über Krieg und Klima. Der Ukrainekrieg hinterlässt seine schmerzhaften Spuren auch dort, wo Frieden herrscht. Die Omnipräsenz der sozialen Medien geben jeder Nachricht eine zusätzliche Schärfe. Und manchen marginalen Gruppen geht es wirklich schlecht, wobei diese meist weniger zornig sind als die Bessersituierten.

Aber Zufriedenheit ist kein Zustand, der aufgrund objektiver Tatbestände eingefordert werden kann. Ob Menschen glücklich sind, hängt mehr davon ab, wie sich die Lebensumstände verändert haben und wie sie ihre weiteren Aussichten einschätzen, als von der tatsächlichen Lebenslage. Das zeigen unzählige Studien. Wer sein niedriges Einkommen steigern kann oder von einer schweren Krankheit gesundet, ist oft glücklicher als Reiche, deren Vermögen schrumpft oder die um ihre gute Gesundheit fürchten. Eine Gesellschaft, die so viel zu verlieren hat, weil sie zuvor so viel gewonnen hat, neigt zu chronischen Angstneurosen.

Vergleich macht klug

Bei aller Sehnsucht nach weltverbessender Begeisterung in Teilen der Gesellschaft und Verständnis für die Wut bei anderen, seien es Corona-Demonstranten oder Klimakleber, sind dieser Tage daher auch andere Gefühle gefragt: Besonnenheit, Gelassenheit und gar jene Seelenruhe, die einst zu den bürgerlichen Tugenden zählte.

Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem hat Schwächen, aber es ist besser als alle bekannten Alternativen. Ja, es gibt bei uns viel Ungerechtigkeit, aber weniger als anderswo und in vergangenen Zeiten. Gewalt nimmt tendenziell ab, Frauen werden weniger gequält und Kinder besser geschützt. Und selbst beim Klima gibt es Grund zur Hoffnung.

Nicht die beste aller Welten

Wir leben nicht in "der besten aller Welten", wie Gottfried Wilhelm Leibniz behauptete, denn sie kann noch besser werden. Die Chancen dafür stehen dank menschlicher Innovationskraft nicht schlecht – obwohl auch nicht auszuschließen ist, dass Yuval Hararis Horrorszenario von der menschheitsvernichtenden KI eintritt. Aber Panik wird die Katastrophe nicht abwenden. Entspannen und durchatmen: Das hilft nicht nur bei der Bewältigung des Alltags – es kann uns auch in eine sicherere politische Zukunft führen. (Eric Frey, 27.5.2023)