Eskapismus Weltflucht Caspar David Friedrich
Caspar David Friedrichs Bilder (hier: "Der Mönch am Meer") erzählen vom auf sich selbst zurückgeworfenen Einzelnen: Der Rückzug der Romantiker in Natur und Mythos war eine Reaktion auf die Zumutungen der strapaziösen Industriemoderne.
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Als J. R. R. Tolkien 1954 nach zwölf Jahren Schreibarbeit seinen Herr der Ringe veröffentlichte, durfte man sich eines fragen: Wie hat der pfeiferauchende Philologe mit ausgeprägtem Fetisch für Fantasiesprachen es nur geschafft, mitten im Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs in eine Welt der Fabelwesen und Zauberer abzutauchen und dabei ein Epos hervorzubringen, das sich über 150 Millionen Mal verkaufen und ein ganzes Genre begründen sollte?

Tolkien, der Urvater der modernen Fantasy-Literatur, ist vielleicht das plakativste Beispiel, wenn es darum geht, Beweise für die kreative Fruchtbarkeit des Eskapismus anzuführen. Weltflucht, oder zumindest -abgewandtheit, die Fähigkeit, vom irdischen Treiben zu abstrahieren, um wiederum im Fantastischen tiefere Wahrheit über die reale Welt zu suchen (bei Tolkien eben den Zweiten Weltkrieg), ist wohl die wichtigste Triebfeder der Kultur überhaupt. Das gilt an sich, seitdem Menschen nach getanem Tagewerk am Lagerfeuer hocken und ihre Gedanken zu Sonne, Mond und Sterne in G'schichtln, Mythen und Religionen packen.

Der Streit um Für und Wider des Eskapismus ist dabei so alt wie die abendländische Kultur selbst: Während Platon den Sinneseindrücken misstraute und die bloße Idee hinter allem suchte, redete sein Schüler Aristoteles, ganz Naturwissenschafter, dem Blick auf die realen Gegebenheiten das Wort. Die Kunst trägt diesen Konflikt anhand einer Frage aus, die bis heute unentschieden bleibt: Hat Kreativität einem bestimmten Zweck zu dienen, oder steht es ihr zu, ganz für sich allein als bloße "l'art pour l'art" zu stehen?

Missverständnis Romantik

Das größte Missverständnis in dieser Hinsicht trifft wohl die Zeit der Romantik, die heute als Paradeepoche eskapistischer Künste gilt. Die Weltabgewandtheit, die einem in Ritterromanen, Märchen und Landschaften Caspar David Friedrichs begegnet, ist dabei keineswegs belanglos, sie ist Ausfluss des Haderns mit einer als seelenlos und der Natur entfremdet empfundenen Industriemoderne – eine Ansicht, die im Zeitalter der Industrie 4.0 aktueller nicht sein könnte.

Große eskapistische Kunstwerke, die Vertiefung, Kontemplation, Geduld und einen gewissen Grad an Nerdtum erfordern, stehen in einer Welt, die von exponentieller Beschleunigung getrieben ist, unter keinem guten Stern. Obwohl heute rein zahlenmäßig so viel gelesen und geschrieben (oder eher getippt) wird wie nie zuvor, sinkt der durchschnittliche IQ und sackt die qualitative Leseleistung ab. Was also tun angesichts permanenter Zerstreuung und einer Ökonomie, die Ausgeruhtheit und Pausen vom Weltgetöse nicht gerade honoriert?

Adorno weist den Weg

Einen Ausweg zeigt wie so oft Theodor W. Adorno. Jeder wirklich frische Gedanke beginnt bei ihm mit einem großen Nein, einer Absage, einem Stück Weltentsagung. Man muss dazu nicht gleich wie Henry David Thoreau für zwei Jahre in eine einsame Waldhütte ziehen und sich mit Bohnenzucht herumplagen. Es reichte schon, einen Einschnitt wie die abflauende Pandemie zum Anlass zu nehmen, um darüber nachzudenken, was einem individuell wirklich wichtig ist.

Der Kunst empfiehlt Adorno, zwar kritisch auf die reale Verfasstheit der Welt zu blicken, dabei immer aber auch einen Schritt in die Verfremdung zu wagen. Tolkien jedenfalls wäre mit vielem, was heute in seinem Namen der Zerstreuung dient, nicht glücklich. Seiner Auffassung nach sollte die eskapistische Erfahrung einzig und allein dazu dienen, mit geschärftem Blick und frischem Kreativgeist in die Realität zurückzukehren. Oder mit den Worten Astrid Lindgrens: "Manchmal braucht man Fantasie, um die Realität zu überleben." (Stefan Weiss, 27.5.2023)