Eric Frey

Man muss schon recht alt sein, um sich an eine Zeit erinnern zu können, in der Henry Kissinger nicht präsent war. In den 1960er-Jahren war er als aufstrebender Politikwissenschafter der Harvard University bekannt, der sich eifrig Demokraten und Republikanern andiente. Die große Weltbühne betrat er 1968, als Richard Nixon ihn zum Nationalen Sicherheitsberater ernannte. Fünf Jahre später wurde er Außenminister und blieb das bis 1977 unter Nixons Nachfolger Gerald Ford.

Henry Kissinger ist als Vertreter der Realpolitik Fürst Metternichs unverwüstlicher Erbe.
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Die großen außenpolitischen Erfolge der Nixon-Ära – die Öffnung gegenüber Maos China, die Abrüstungspolitik mit der Sowjetunion, die erste Annäherung zwischen Israel und Ägypten – sind eng mit seinem Namen verknüpft, aber ebenso die dunklen Ereignisse dieser Zeit: die brutale Bombardierung von Kambodscha oder die US-Unterstützung für den Militärputsch in Chile. Kissinger wurde zum großen Feindbild von Linken, die ihm Kriegsverbrechen vorwarfen. Der Friedensnobelpreis, den er 1973 für einen kurzlebigen Friedensvertrag zwischen Nord- und Südvietnam erhielt, gilt als Fehlleistung des Nobelkomitees.

Seit 46 Jahren ist Kissinger – zweimal verheiratet und zweifacher Vater – Politpensionist und hat Regierungen beraten, mehr als ein Dutzend Bücher verfasst, unzählige Reden gehalten und Interviews gegeben. 100 Jahre nach seiner Geburt am 27. Mai 1923 in Fürth bei Nürnberg in einer jüdischen Familie, die 1938 in die USA flüchtete, bleibt der Fußballfan mit dem deutschen Akzent die prominenteste Stimme in der Weltpolitik – klug, tiefsinnig und witzig.

In der Tradition von Österreichs Staatskanzler

Auch wenn ihn sein bisher letzter Biograf Nial Ferguson als "Idealisten" bezeichnet, gilt Kissinger als Hauptvertreter der Schule der Realpolitik, die Interessen vor Moral und Werte stellt. Er steht dabei in der Tradition von Österreichs Staatskanzler Fürst Metternich, den er erforscht und stets bewundert hat.

Mit seiner Skepsis gegenüber nationaler Selbstbestimmung und Menschenrechten wirkte er wie aus der Zeit gefallen. Aber gerade der russische Überfall auf die Ukraine, der alle seine Prinzipien kluger Außenpolitik verletzt, macht ihn wieder relevant: Er befürwortet die US-Unterstützung für Kiew, empfiehlt aber den Verzicht auf die Krim als Preis für Frieden. Sein Ziel sei es nie gewesen, Kriege zu führen, sondern sie zu vermeiden, sagte er vor kurzem dem Economist. Das sei auch die größte Herausforderung zwischen den USA und China. "Ob das gelingt, werde ich nicht mehr erleben", fügte er schmunzelnd hinzu. (Eric Frey, 27.5.2023)