Die Freude unter den Anhängern des wiedergewählten Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nach dem Wahlsieg war groß.
APA/AFP/OZAN KOSE

Die Autokorsos in der Nacht ihres Sieges nahmen kein Ende. Bis drei Uhr morgens dröhnten immer wieder Autos mit fahnenschwenkenden Männern und dem immergleichen Erdoğan-Ergebenheitssong durch das Viertel. Das war nicht nur Freude über einen Wahlsieg, sondern eine Kampfansage an die Verlierer. Gezielt suchten sich Erdoğans Anhänger in Istanbul, der Metropole, in der die Opposition die Mehrheit der Stimmen erhielt, solche Viertel heraus, die gegen den alten und neuen Präsidenten gestimmt hatten. Entlang des Bosporus und auf der Bagdad-Caddesi, der Hauptstraße durch die CHP-Hochburg Kadiköy auf der asiatischen Seite der Stadt, paradierten die Ultras. Schüsse hallten durch die Nacht – wenn auch nur in die Luft, hatten sie doch eine klare Botschaft: Wir haben die Macht und die Waffen.

Kurz zuvor hatte Recep Tayyip Erdoğan, den die meisten seiner Anhänger mittlerweile nur noch "Reis", den Führer, nennen, seine berühmt-berüchtigte Balkonrede gehalten. Dieses Mal nicht mehr wie sonst vom Balkon seiner Parteizentrale in Ankara, sondern vor dem Präsidentenpalast auf einem Hügel vor der Hauptstadt. Das Schema entsprach den Balkonreden vorangegangener Wahlen. Zu Beginn gab er den Landesvater, behauptete, sein Sieg sei ein Gewinn für alle, um dann wie im Wahlkampf zuvor die Opposition als "von Terroristen gesteuert" zu denunzieren und deren Toleranz für Menschen der LGBTQI-Community als einen Anschlag auf die Familie zu bezeichnen. Recep Tayyip Erdoğan wird das Land für weitere fünf Jahre allein regieren, er hat es im hundertsten Jahr des Bestehens der türkischen Republik noch einmal geschafft.

Knapper Sieg

Nach offiziellen Angaben des von ihm kontrollierten Wahlrats hat er 52,1 Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen, sein Herausforderer Kemal Kılı çdaroğlu 47,9 Prozent. Das genügt als Vorsprung, um eine erneute Debatte um Wahlfälschungen nicht noch einmal aufkommen zu lassen.

Doch ein Blick auf die politische Landkarte zeigt, dass Erdoğan mit seinem Sieg lediglich einen Pyrrhussieg eingefahren haben könnte. Die Spaltung des Landes hat sich nach dem ersten Wahlgang am 14. Mai noch einmal vertieft. Die Opposition hat die gesamte Mittelmeer- und Ägäisküste plus die gesamte europäische Türkei gewonnen, dazu aber auch den gesamten Südosten und Osten entlang der Grenzen zum Iran und Georgien. Das sind einmal alle Provinzen, in denen die Kurden einen relevanten Anteil an der Bevölkerung stellen, und dann alle Provinzen des Landes, die eher nach Westen ausgerichtet sind.

Wichtiger aber noch: Erdoğan kann in den urbanen Ballungsgebieten nicht mehr punkten. Der Vorsprung Kılıçdaroğlus in den drei größten Städten des Landes – Istanbul, Ankara und Izmir – ist im zweiten Wahlgang noch gewachsen. Mit den Provinzen Ankara und Eskişehir hat die Opposition auch die wirtschaftlich wichtigsten Provinzen in der Landesmitte gewonnen. Der Rest des Landes gehört zwar Erdoğan, aber das ist der ökonomisch eher abgehängte Teil der Türkei.

Frauenfeindlichkeit und Familienpolitik

Dazu passt die Koalition der Parteien, die Erdoğan im Parlament unterstützt. Neben seiner AKP sind das die rechtsradikale MHP, mit der er schon in den letzten Jahren zusammen regiert hat, plus zwei neue islamistische Kleinparteien, die kurdische Hüda Par und die Partei Yeniden Refah, die vom Sohn des früheren türkischen Islamistenführers Necmettin Erbakan gegründet wurde. Beide Parteien sind betont frauenfeindlich und haben mit ihren an Afghanistan erinnernden Forderungen nach einer traditionellen Familienpolitik selbst etliche Frauen der AKP verstört.

So ist es kein Wunder, dass die Taliban in der Wahlnacht mit zu den ersten Gratulanten Erdoğans gehörten und ihrer Hoffnung auf weitere gute Zusammenarbeit Ausdruck gaben. Dass die nächsten Gratulanten dann Wladimir Putin und Viktor Orbán waren, verwundert auch nicht weiter. Als Allererstes aber hatte Erdoğan den Scheich aus Katar, Tamim bin Hamad Al Thani, in der Leitung. Als wichtigster Finanzier Erdoğans freute sich der Scheich ganz besonders, dass sich seine Investitionen in den türkischen Präsidenten gelohnt haben. Der Rest der weltweiten Investoren und Bankmanager ist nicht erfreut über Erdoğans Wahlsieg. Gingen die Aktien türkischer Banken schon nach dem ersten Wahldurchgang in den Keller, erreicht die türkische Lira am Montag einen historischen Tiefstand. Für einen Dollar muss man jetzt 20,06 Lira zahlen, der Euro steigt in Richtung 22 Lira.

Mehr vom Gleichen

Erdoğans Antwort auf die Wirtschaftskrise deutete er gleich in der Wahlnacht an: Er plant mehr vom Gleichen. Betonprojekte und die Bauwirtschaft waren schon immer Erdoğans Konjunkturmotor, und daran will er festhalten. Neben dem Wiederaufbau in den Erdbebengebieten, der ja in großen Teilen aus dem Ausland finanziert werden soll, brachte er auch sein gigantisches Lieblingsprojekt "Kanal Istanbul", den "zweiten Bosporus" vom Schwarzen Meer zum Marmarameer, wieder zur Sprache. Erdoğ an setzt dabei auf Geldgeber vom Golf, aus Russland und China. Mit der EU rechnet er dagegen eher nicht. Leuten, die glauben, er würde nun wieder auf die EU zugehen, erklärte er noch in der Wahlnacht, die Freilassung von Gefangenen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seit langem fordert, komme nicht infrage. Der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş und der Kulturförderer Osman Kavala bleiben in Haft.

"Nur weg von hier" ist das verbreitete Motto unter den Jungen auf der Verliererseite. Der Aderlass von kreativen, gut ausgebildeten Menschen, der nach der Niederschlagung der Gezi-Proteste vor zehn Jahren begann und sich nach dem Putschversuch 2016 fortsetzte, wird weitergehen. (Wolf Wittenfeld, 29.5.2023)