Orang Utan Borneo Mensch Affe
Eine Nationalpark-Besucherin auf Borneo mit einem Orang-Utan.
Joel Carillet / Getty Images

Sie sind die nächsten lebenden Verwandten des Menschen und aus unserer Perspektive doch ganz anders: Schimpansen, Orang-Utans und Totenkopfäffchen gehören wie wir zur Gruppe der Primaten. Der Vergleich verrät einiges darüber, was Menschsein überhaupt ausmacht und wie sich unsere Evolution gestaltete. Nun wurde der Stammbaum der Primaten neu gezeichnet. Mehrere Studien in einer Sonderausgabe des Fachmagazins "Science" legen beispielsweise nahe, dass sich die ersten menschlichen Verwandten bereits vor neun bis sieben Millionen Jahren von der Abstammungslinie der Schimpansen trennten – früher als die bisher angenommenen sechs Millionen Jahre. Genomanalysen weisen auf eine Reihe an Mutationen hin, die auch beim Menschen Krankheiten fördern könnten. Andere Ergebnisse zeigen erstmals, dass sich bei einer Spezies durch eisige Klimabedingungen wohl mehr soziale Verhaltensweisen entwickelt haben.

Dabei wurde der bisher größte Katalog an Genomdaten nichtmenschlicher Primaten zusammengestellt, unter Beteiligung von Forschenden der Universität Wien. Anthropologe Martin Kuhlwilm trug mit Kolleginnen und Kollegen Proben von mehr als 800 Individuen und 233 Arten zusammen, zu denen lebende und ausgestorbene Primaten zählten. Damit werden beispielhafte Genome aller bekannten Primatenfamilien dargestellt, 86 Prozent der Gattungen und fast die Hälfte aller lebenden Primatenarten sind in der einzigartigen Sammlung vertreten. Damit stehen nun viermal so viele Primatengenome der Forschung zur Verfügung wie zuvor.

Humboldt-Totenkopfaffen in Brasilien.
Marcelo Santana

Mit den Analysen rückten viele Primaten dem Menschen näher als bisher. "Mit dem neuen Genomkatalog hat sich die Zahl der genomischen Variationen halbiert, von denen man annahm, dass sie nur beim Menschen vorkommen", sagt Kuhlwilm. Viele dieser angeblich für Homo sapiens exklusiven Variationen wurden also ebenfalls bei anderen Spezies nachgewiesen. Somit "scheint das, was uns tatsächlich zum Menschen macht, seltener zu sein als erwartet".

Medizinisch relevant

Interessant war auch die Suche nach Mutationen, die die Kombination der Aminosäuren abändern und so für Krankheiten sorgen könnten. Infrage kamen 70 Millionen mögliche "Fehlmutationen". Der Vergleich der Mutationen bei Menschen und Affen lässt den Schluss zu, dass rund vier Millionen der möglichen Fehlmutationen bei Primaten häufig sind. Sie könnten also gutartig sein und keine Krankheiten hervorrufen. Durch den Einsatz eines Algorithmus, der auf Deep-Learning basiert, wurden die übrigen 66 Millionen Mutationen untersucht, um einzuschätzen, wie wahrscheinlich sie pathogen sind. Gefunden wurden mitunter achtzehn bisher unbekannte Varianten, die das Nervensystem beeinträchtigen könnten und durch genauere Analysen weiter erforscht werden sollten.

Die stark gefährdete Spezies der Goldstumpfnasen kommt auch bei Eis und Schnee relativ gut zurecht. Dies dürfte sich Hand in Hand mit ihrem verträglichen Sozialverhalten entwickelt haben.
Guanlai Ouyang

Einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen Umwelt, Genetik und Verhalten stellte ein weiteres Forschungsteam fest, das asiatische Schlank- und Stummelaffen erforschte. Sie sind in tropischen Regenwäldern wie auch in schneebedecktem Gebirge zu finden. Doch es gibt Unterschiede zwischen verschiedenen Populationen. Die sogenannten Goldstumpfnasen, die in kalten Regionen Chinas vorkommen, leben eher in großen, komplexen Gruppen zusammen. Die Muttertiere kümmern sich eher länger um den Nachwuchs, etwa, indem sie ihn länger stillen. Das erhöht die Überlebensrate der jungen Äffchen, was in kalten Regionen umso wichtiger ist.

Das Forschungsteam um Kit Opie von der Universität Bristol in England legt dar, dass die Eiszeiten der vergangenen sechs Millionen Jahre Selektionsdruck auf bestimmte Gene ausgeübt haben, die Stoffwechsel sowie Nerven- und Hormonsystem beeinflussen und so eine bessere Anpassung an die unwirtliche Umwelt ermöglichten. Solche Veränderungen beim Regulieren der Hormone Dopamin und Oxytocin hängen wiederum mit Sozialverhalten und das Kümmern um Nachwuchs zusammen. Und sie scheinen sich generell positiv auf die Beziehungen zwischen Individuen ausgewirkt zu haben: Männchen tolerieren sich eher, die Tiere leben nicht nur in Gruppen mit einem Männchen und vielen Weibchen zusammen, sondern in komplexen Gesellschaften mit mehreren Ebenen.

Komplexer als gedacht

Paviane sind eine genetisch diverse Gattung, von der wir auch etwas über die Evolution des Menschen lernen könnten.
Sascha Knauf

Eine Parallele zum Menschen zeigte sich bei der Untersuchung von Steppenpavianen. Paviane sind genetisch besonders vielfältig, und das trifft offenbar insbesondere für Steppenpaviane im Westen von Tansania zu: Sie sind die ersten nichtmenschlichen Primaten, die aus drei verschiedenen Abstammungslinien genetisches Material erhielten. Diesen Ergebnissen zufolge ist die genetische Struktur und Geschichte dieser Affen komplexer als gedacht, sagt Jeffrey Rogers vom Baylor College of Medicine in Houston, Texas: "Die Paviane sind ein gutes Modell für die Evolution von modernen Menschen, Neandertalern und Denisovanern." Immerhin wurden Genflüsse zwischen diesen Menschentypen nachgewiesen, und noch heute lebende Menschen tragen teilweise DNA von Neandertalern (vor allem bei europäischen Wurzeln) beziehungsweise von Denisova-Menschen (insbesondere bei bestimmten Populationen aus Ozeanien und Ostasien) in sich.

Doch nicht nur Affen sind den neuen Studien zufolge Menschen näher gekommen. Auch der Mensch rückt in die Nähe von Primaten, und das wortwörtlich durch die Ausdehnung von Feldern und Siedlungen auf die natürlichen Habitate vieler Affen. In den kommenden zehn Jahren sind 60 Prozent der Primatenarten durch das Einwirken des Menschen auf Waldrodung und Klima vom Aussterben bedroht, heißt es in einer Aussendung der Universität Wien. "Unsere Studien geben Aufschluss darüber, welche Arten am dringendsten geschützt werden müssen, und könnten dazu beitragen, die wirksamsten Strategien zu ihrer Erhaltung zu ermitteln", sagt der österreichische leitende Studienautor Lukas Kuderna vom Institut für Evolutionsbiologie (IBE) in Barcelona. "Wir müssen jetzt entscheiden, ob wir handeln wollen, um diese wertvollen Tierarten zu erhalten. Jede für sich ist wertvoll – und unser Spiegel, der zum Verständnis unserer Genome und damit unserer selbst dient." (Julia Sica, 2.6.2023)