Valerie geht durch den kleinen Raum, vorbei an den Staffeleien und betritt die Bühne. Sie legt das weiße Leintuch, das sie sich um den Körper geschwungen hat, auf den Boden. Darunter ist sie nackt. Sie nimmt ihre Position ein.

Nur einige Schritte hinter ihr ist Sofie, die ebenfalls ihr Tuch ablegt und Valerie von hinten umarmt. Die erste Pose bestreiten die beiden Aktmodelle im Stehen. Die Gespräche und das Gelächter verstummen. "15 Minuten", verkündet Galeriebesitzer Baduc Gibaja. Von nun an ist nur noch das Kratzen von Stiften, Kohle und Pinsel auf Papier zu hören. Alle Sessel im Atelier im zweiten Wiener Bezirk sind besetzt. Sonja ist Gitarristin aus Peru und eine Bekannte des Atelierbesitzers. Sie beginnt leise auf ihrer Gitarre zu spielen, schafft eine fast meditative Stimmung. Alle sind jetzt hochkonzentriert.

Im Studio von Baduc Gibaja im zweiten Wiener Gemeindebezirk findet der Aktzeichenkurs statt.
Im Studio von Baduc Gibaja im zweiten Wiener Gemeindebezirk findet der Aktzeichenkurs statt.
Regine Hendrich

Ein Mann vor mir hebt seinen Stift, kneift ein Auge zu und misst auf diese Weise ein Körperteil des Aktmodells ab. Die Dame neben mir unterteilt ihr Blatt mit dem Bleistift in vier Teile, skizziert die Arme und Beine zuerst als Ovale, bevor sie ­diese verbindet und ein Mensch mit Gliedmaßen daraus wird.

Man könnte meinen, dass die zwei nackten Frauen, die sich auf der Bühne festhalten, etwas Sexuelles ausstrahlen. Doch das tun sie nicht. In den Augen der Künstlerinnen und Künstler werden sie zu Ovalen, Formen, Linien und Rundungen. Ich merke selbst, wie mein Blick sich verändert. Weg von nackter Haut, hin zu Linien, Schatten, Kurven.

Schwierige Posen

Es ist Freitagabend, 19 Uhr, und in dem kleinen Atelier 1020 von Künstler Baduc Gibaja haben sich wie jede Woche rund zehn Hobbykünstler für eine Aktzeichenrunde zusammengefunden. Diese findet jeden Mittwoch und Freitag statt. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich, der Unkostenbeitrag sind zehn Euro. "Experience the world differ­ently, find the artist in you" ist der Slogan der Veranstaltung. Die Gruppe ist gemischt: Jung und Alt, Profis und Hobbykünstler. Einige haben seit Monaten nicht mehr gezeichnet, andere kommen jede Woche. Ich hatte seit meinem Schul­abschluss keinen Zeichenblock vor mir. "Zwei Minuten noch", verkündet Baduc laut, und das Geräusch von Stift auf Papier wird energischer, hektischer, bis er "Stopp" ruft.

Zehn Hobbykünstler skizzieren die beiden Aktmodelle.
Zehn Hobbykünstler skizzieren die beiden Aktmodelle.
Regine Hendrich

Valerie und Sophie lösen die Pose, schütteln ihre Gliedmaßen aus. Sofort ist die konzentrierte Stille von eben gebrochen: Bilder werden herumgezeigt, Stifte getauscht, Material für die nächste Runde vorbereitet und über die Schwierigkeiten der Pose gesprochen. Die Modelle lachen, als ihnen einer der Maler zuruft, dass sie es ihm mit der Position nicht leicht gemacht haben.

Etwas abstrakter

Die beiden jungen Frauen kommen ursprünglich aus Italien und studieren in Wien Philosophie. Die 24-jährige Valerie erzählt: "Ein Freund hat mich mal darauf aufmerksam gemacht, dass man als Aktmodell Geld verdienen kann. Anfangs ging es mir darum. Aber nach den ersten paar Abenden habe ich gemerkt, wie gut es mir in Bezug auf mein Körpergefühl tut. Ich habe kein Problem damit, nackt zu sein und die Vorlage für Kunst zu werden. Dadurch bin ich mit mir selbst geduldiger und nachsichtiger geworden." Für sie hat es etwas fast Meditatives, in einer Position für 15 bis 20 Minuten zu verharren und in einem Raum voller Menschen mit ihren Gedanken allein zu sein. Die zwei Modelle nutzen die Pause, um in einem Nebenraum die nächste Pose zu probieren.

Der 68-jährige Pensionist Norbert kommt regelmäßig ins Atelier, spricht und lacht laut. Er kennt alle Teilnehmenden. "Habt ihr die Posen bekommen, die ich euch geschickt habe? Die würde ich gerne mal zeichnen", ruft er ihnen zu. Die beiden jungen Frauen schmunzeln und nicken. Norbert hat seine Liebe zur Kunst erst im Alter entdeckt. "Ich habe früher beruflich geschrieben und dadurch Bilder entstehen lassen. Heute möchte ich das von der anderen Seite versuchen."

Der Pensionist liebte in seiner ­Jugend Comics. Seine Bilder sind bunt, rot, blau und sein Stil abstrakter als der vieler anderer. Diese Vielseitigkeit der Künstlerinnen und Künstler liebt Baduc Gibaja an seiner Zeichenrunde. Der Atelierbe­sitzer kommt aus Peru und trägt provokant ein T-Shirt mit der Aufschrift "Ausländer": "Ich hatte nie vor, in Österreich zu bleiben. Ich kam 2003 für eine Ausstellung, aus der mehrere Projekte und dann ein ganzes Leben wurden. Zwanzig ­Jahre später bin ich immer noch da. Mich freut, dass ich mit meiner Arbeit viele unterschiedliche Menschen zusammenbringe."

Internationale Talente

Das Atelier ist in der Pause erfüllt von unterschiedlichen Stimmen und Sprachen. Eine Flasche Wein wird herumgegeben. Zwei junge Frauen und ein Mann aus Südamerika haben sich zufällig im Atelier getroffen und unterhalten sich auf Spanisch. Marianne Blier ist Russin und kam vor über fünfzehn Jahren nach Österreich. Sie produziert hauptberuflich Skulpturen aus Marmor und nutzt die Aktzeichengruppe als Raum der Übung und ­Inspiration: "Manchmal merke ich durch die Art, wie die Modelle stehen, oder die Linien, die ich ziehe, dass diese Pose auch aus Marmor schön wäre. Das inspiriert mich."

Die Kunstschaffenden schauen genau, manche stehen auf, bewegen sich im Raum, um einen Winkel zu wählen, den sie zeichnen möchten.
Die Kunstschaffenden schauen genau, manche stehen auf, bewegen sich im Raum, um einen Winkel zu wählen, den sie zeichnen möchten.
Regine Hendrich

Ihr Partner ist Amerikaner und Kunsttheoretiker. Für ihn ist die Zeichenstunde eine willkommene Abwechslung zur täglichen Theorie: "Ich zeichne ganz bewusst ausschließlich mit dem Kugelschreiber. Dadurch kann ich nichts mehr ­ändern und muss die Fehler Teil meiner Arbeit werden lassen. Wenn ich Arbeiten und Dokumentationen schreibe, kann ich jedes Wort zigmal ändern. Hier ist das anders." Beide finden es großartig, dass es in Wien so viele Aktzeichenangebote gibt. "Das ist international besonders. Wien ist da Vorreiter", sagt Marmorbildhauerin Marianne.

Perspektivenwechsel

Mindestens vier Tage die Woche könnte man in Wien Aktzeichnen gehen. Neben dem Angebot von ­Baduc Gibaja zweimal die Woche gibt es wöchentlich ein Angebot, das über die Facebook-Gruppe "Mon­ami Life Drawing in Vienna" organisiert wird. Dieses findet jeden Donnerstag in einem anderen Lokal wie im Kaffeehaus Quentin im siebenten Bezirk oder im Monami im sechsten Bezirk statt, die genauen Orte und Termine erfährt man online. Jeden Samstag ab 14 Uhr kann man auch im Vienna Atelier of International Arts im 14. Bezirk Aktzeichnen. Im Commonroom im achten Bezirk wird das Zeichnen mit Geselligkeit kombiniert. "Drink & Draw" heißt das Angebot, das aber eher unre­gelmäßig stattfindet. Auch Modelle werden immer gesucht, das sei nicht ganz einfach, sagen die Veranstalter.

Sophie und Valerie betreten im Atelier im zweiten Bezirk wieder die Bühne. Die nächste Runde beginnt. Valerie legt sich auf den Rücken, Sophie stützt sich auf sie, sieht ihr in die Augen, ihre nackten Körper berühren sich. Die zwei Frauen unterhalten sich leise, ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt. Man merkt, sie kennen einander gut.

Die Kunstschaffenden schauen genau, manche stehen auf, bewegen sich im Raum, um einen Winkel zu wählen, den sie zeichnen möchten. Ich lege den Notizblock weg und nehme den Zeichenblock zur Hand, stehe auf und suche mir eine andere Perspektive. Perspektivenwechsel ist das Thema dieses Abends – tatsächlich auch für mich. (Sandra Gloning, 2.6.2023)