Am Verschiebebahnhof Wien-Kledering fühlt sich der ÖBB-Chef sichtlich wohl. Von einer Terrasse aus beschreibt er gestenreich, was unten zu sehen ist, die Fotos entstehen dann auf dem Weg in ein Büro.

STANDARD: Gut gebrieft? Sie sind bekannt dafür, dass Sie sich sehr genau auf Termine vorbereiten.

Matthä: Vorbereitung ist das halbe Leben.

ÖBB, Matthä
"Streithansl bin ich sicher keiner, und ja, Harmonie ist mir wichtig": ÖBB-Chef Andreas Matthä.
Regine Hendrich

STANDARD: Bekommen ÖBB-Neueinsteiger eigentlich ein Eisenbahner-Wörterbuch, für die vielen Fachbegriffe?

Matthä: Es gibt keinen Langenscheidt ÖBB–Deutsch, Deutsch–ÖBB. Aber im Intranet haben wir ein Glossar für die jungen Kolleginnen und Kollegen – und alle beginnen mit einem Berg von Sicherheitsvorschriften, bevor sie überhaupt ans Gleis dürfen.

STANDARD: Ich habe im Internet nur ein Schweizer Glossar gefunden, da gibt es etwa den Begriff "Fluchtfahrt" fürs Freimachen eines Perrons für einen anderen Zug. Gibt's das bei Ihnen auch?

Matthä: Nein, bei uns heißt das Freifahren.

STANDARD: Die Schweizer Bahn ist ja Ihr Vorbild, die Schweizer lieben ihre Eisenbahn, sagen Sie immer.

Matthä: Ja, die lieben die Eisenbahn in der Tat – aber ich hatte gestern ein Gespräch mit Schweizer Kollegen, und sie attestieren uns, dass wir extrem schnell aufgeholt haben, und die Schweizer interessiert inzwischen sogar schon, wie wir bei der ÖBB den Bahnbetrieb organisieren. 

STANDARD: Wir sind hier am Verschiebebahnhof Kledering und damit am Ursprung Ihrer ÖBB-Karriere. Die Brücke über die Gleise da drüben, die haben vor 40 Jahren Sie gebaut?

Matthä: Ja, hier hab ich 1982 im Baubereich begonnen und ein paar der Brücken hier gebaut.

STANDARD: Hier werden täglich rund 150 Güterzüge neu zusammengesetzt. Da fühlen Sie sich daheim, oder?

Matthä: Ja, hier läuft das Geschäft, hier ist die Wirklichkeit. Wenn man im Büroturm sitzt, muss man sich immer vergegenwärtigen: Das ist nicht die Realität.

Bahnhof, Züge, Schienen
Einer der Rollberge im Verschiebebahnhof, wo Züge neu zusammengesetzt werden.
Regine Hendrich

STANDARD: Die ÖBB hat 42.000 Mitarbeiter, 4,7 Milliarden Euro Umsatz, 1,3 Millionen Reisende am Tag, für heuer erwarten Sie 480 Millionen Passagiere. Da gibt's nur große Zahlen ...

Matthä: Und wir sind auch größter Lehrlingsausbildner, die pünktlichste Bahn in der EU ...

STANDARD: Na ja, da gibt es Luft nach oben. Im Fernverkehr sind derzeit nur 83 Prozent der Züge pünktlich, im Nahverkehr 96,3 Prozent.

Matthä: Es kann nie pünktlich genug sein. Es ist sehr herausfordernd, dass zwei Drittel unserer Züge im Ausland beginnen und im Ausland enden und durch ganz Österreich fahren. Auf tausend Kilometern, etwa zwischen Budapest und Zürich, auf fünf Minuten pünktlich sein zu müssen: Das ist nicht ohne.

STANDARD: Was sagen Sie eigentlich zum Zustand der Deutschen Bahn?

Matthä: Er ist ein Mahnmal dafür, dass ein Land auf seine Infrastruktur achten muss. Die Deutschen sagen selbst, dass sie zu wenig investiert haben, und jetzt ist die Rechnung dafür da. Aber noch zu den großen Zahlen: Ich bin schon so lang bei der ÖBB, dass ich damit umgehen kann. Manches gleicht sich in einem großen Konzern aus: Geht es einer Sparte schlechter, geht es einer anderen besser, in Summe passt's wieder. Höllisch aufpassen muss man, dass nicht der ganze Konzern in Schieflage gerät, denn da kommt man schwer wieder raus.

STANDARD: Die ÖBB hat aber auch rund 30 Milliarden Euro Schulden, Sie wollen in den kommenden Jahren für Fern- und Nahverkehrszüge 4,7 Milliarden Euro ausgeben. Andere Unternehmen steigen angesichts der Inflation auf die Bremse, die ÖBB nicht. Ihr Motto: Koste es, was es wolle?

Matthä: Ha! Nein, weil am Ende des Tages müssen wir uns das auch leisten können, und wir haben auch ein Anlagevermögen von 34 Milliarden Euro …

STANDARD: Es zahlen ja die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.

Matthä: Ganz so ist es auch wieder nicht, wir müssen unsere Ausgaben ja rechtfertigen. Aber Europa lebt in einer Bahnrenaissance, alle bestellen Züge und Infrastrukturen, das wirkt auf Preise und Lieferzeiten.

STANDARD: Die Preissteigerungen bei Fahrzeugen und Großprojekten liegen bei acht bis zehn Prozent, und die Zinsen steigen auch. Lässt Sie das schlecht schlafen?

Matthä: 2022 waren es unter acht Prozent, was aber auch wehtut, und den Zinsanstieg spüren wir nur bei unseren neuen Finanzierungen, denn bei den alten haben wir Fixzinsen. Aber ich schlafe immer gut.

STANDARD: Auch im Schlafwagen?

Matthä: Ja, und ich fahre gern damit, weil mir geht das Fliegen auf die Nerven, und per Schlafwagen kommt man bis mitten in die Stadt – nehmen Sie nur Venedig.

STANDARD: In Italien urlauben Sie gern, und neuerdings kochen Sie auch?

Matthä: Während der Pandemie habe ich gelernt, wie herrlich entspannend Kochen ist. Das habe ich mir bewahrt. Ich koche querbeet, sicher fleischlastig. Aber ich koche auch Gemüseeintopf.

STANDARD: Sie stammen aus einer Eisenbahnerfamilie und sind da schon die fünfte Generation, bereits Ihr Ur-Urgroßvater war bei der Bahn. Er hat an der ersten Eisenbrücke über die Donau mitgearbeitet, heute ist das die Nordbrücke. Wollten Sie selbst je etwas anderes werden als Eisenbahner?

Matthä: Als Bautechniker habe mich sehr für die Erdölindustrie interessiert – weil der Kollektivvertrag so gut war, viel besser als der der Bahnen. Trotzdem hat es mich dann zur ÖBB verschlagen, Gott sei Dank. Nicht, weil ich Vorstandschef geworden bin, sondern weil der Konzern leistungs-, ausbildungsorientiert und fair ist. Mit 48 geht kaum mehr jemand in Pension – das ist vorbei. Und das merken auch die Österreicherinnen und Österreicher.

Zug, SBB, Zürich
"Die Schweizer lieben ihre Bahn", sagt Matthä, hier saust ein Zug der SBB aus dem Zürcher Hauptbahnhof.
Reuters/Denis Balibouse

STANDARD: Die Schweizer lieben ihre Bahn, haben Sie gesagt. Wie ist das Verhältnis der Österreicherinnen und Österreicher zur ÖBB?

Matthä: Als ich hier begonnen habe, war es Hassliebe. Jetzt empfinden sie zunehmend Stolz auf ihre Bahn. Das lernen wir aus den Feedbacks, die immer öfter positiv sind.

STANDARD: Nicht, wenn Sie die Leute wegen Überfüllung der Züge rauswerfen.

Matthä: Müssen wir Leute aus dem Zug bitten, tut mir das natürlich weh. Wir müssen den Passagieren noch deutlicher machen, dass sie für Spitzenzeiten einen Sitzplatz reservieren müssen. Das ist wie auf der Südosttangente: Am Freitagnachmittag ist sie voll.

STANDARD: Sie betonen stets, wie grün die ÖBB ist. Haben Sie das Managerglück, zur richtigen Zeit im richtigen Unternehmen zu sein? Sie hätten auch bei der Asfinag landen können.

Matthä: Ein bissl ein Glück im Leben muss man auch haben, und ich bin immerhin schon 40 Jahre da. Tatsächlich begann das Glück mit der ÖBB-Gründung nach dem Ersten Weltkrieg: Österreichs Bahnen hatten kein Geld für Kohle, darum hat man rasch begonnen, die Wasserkraft auszubauen – deswegen gab es so viele elektrische Bahnen. Jetzt ist das super: Das ist grüner Strom und nachhaltig. Ich wäre ja blöd, brächte ich dieses Argument im Wettbewerb zu anderen Verkehrsträgern nicht ins Spiel.

STANDARD: Die ÖBB könnte noch grüner sein. Sie kaufen immer noch die schweren Railjets statt leichterer Wagen.

Matthä: Da gibt es mehrere Ebenen. Wir arbeiten stark am Thema Nachhaltigkeit, auch abseits von CO2, weil die EU sehr drauf schaut, Stichwort Taxonomie. Wir haben sehr gute Ratings, was unsere Finanzierungskonditionen verbessert. Nachhaltigkeit wird sich in den nächsten Jahren als Verkaufsargument in Umsatzsteigerungen widerspiegeln.

Bahnhof, Arbeitsplatz, Sicherheit
Ein Arbeitsplatz am Verschiebebahnhof, links und rechts die Stopptasten.
Regine Hendrich

STANDARD: Kennen Sie eigentlich jeden Job, den es bei der ÖBB gibt?

Matthä: Nein, ich lerne heute noch jeden Tag dazu.

STANDARD: Was haben Sie gestern gelernt?

Matthä: Da gab's eine spontane Tanzveranstaltung im Hauptbahnhof. Es braucht Impulse für Kultur im öffentlichen Raum. Wieso sollen Pendler zahlen, nur durch die Bahnhöfe laufen, und Kultur findet ausschließlich an elitären Plätzen statt?

STANDARD: Hauptbahnhof statt Musikverein?

Matthä: Ja, Hauptbahnhof statt Musikverein! Gestern bei der Ausstellungseröffnung "100 Jahre ÖBB" war es so. Da ging eine Tanzkompanie in alten ÖBB-Uniformen durch die Halle, dann ertönte da und dort Musik, Leute begannen zu tanzen.

STANDARD: Tanzen Sie auch?

Matthä: Ab und zu auf Bällen. Disco hat mir nie getaugt, da konnte man sich nicht unterhalten, weil es derartig laut war.

STANDARD: In der Disco will man sich nicht unterhalten.

Matthä: Ich hab mich immer lieber unterhalten.

STANDARD: Die ÖBB hat Probleme im Güterverkehr, es gibt überfüllte Züge, Verspätungen. Und der Kanzler macht einen Autogipfel. Sie haben daraufhin einen Bahngipfel gefordert. Sie wollen Gleichstellung mit anderen Verkehrsträgern wie Lkws?

Matthä: Die Zahlen zeigen, dass Österreich jenes Land der EU ist, in dem am meisten Bahn gefahren wird, also ist Österreich schon auch ein Bahnland. Und ja, wir fordern Wettbewerbsgleichheit für alle Verkehrsträger. Im Güterverkehr gehen die Mengen immer mehr von der Schiene auf die Straße, weil der Energiepreis hoch und der Dieselpreis niedrig ist. Das schmerzt mich. Die ÖBB muss für jeden Zentimeter Schiene ins hinterste Tal Maut zahlen, auf der Straße gibt es dort keine Maut. Entweder Maut für Lkws auch abseits der Autobahnen oder auch keine Maut für die Regionalbahn.

STANDARD: Nimmt die ÖVP die Dekarbonisierung nicht ernst ?

Matthä: Klimaziele rauf oder runter: Geht man mit offenen Augen durch die Welt, sieht man, wie sich die Natur immer schneller verändert. Wir streichen auf der Arlberg-Strecke stellenweise die Schienenstränge weiß, damit sie nicht zu heiß werden. Das macht man sonst in Süditalien.

STANDARD: Wie heiß werden Schienen in der Sonne?

Matthä: Um die 60 Grad, und die weiße Farbe senkt das um drei bis vier Grad.

STANDARD: Bei 60 Grad will man sein Ohr nicht auf die Schiene legen, um zu horchen, ob ein Zug kommt. Haben Sie das je getan?

Matthä: Ja, zweimal. Bei Vermessungen, gleich da vorne (deutet auf die Gleise, Anm.): Da war's gut zu wissen, dass kein Zug kommt. Heute ginge das natürlich nicht mehr, da müsste man das Gleis sperren.

Autogipfel, Nehammer, Protest
Kanzler Nehammer hält Österreich für ein Autoland, bei seinem Autogipfel kam es auch zu Protesten.
APA/Letzte Generation Österreich

STANDARD: Zuletzt gab es peinsame Vorfälle: Am Tag der Pünktlichkeit standen alle Züge eine Stunde still, dann machten in einem Zug zwei Burschen Durchsagen mit Hitler-Reden. Was ging Ihnen da durch den Kopf ?

Matthä: Bei den Durchsagen dachten wir zunächst, wir sind gehackt worden. Warum mich das Vorgehen der Burschen so schockiert hat, ist unsere Geschichte: Die ÖBB war ja Teil der NS-Vernichtungsmaschinerie. Wie kann man so hirnlos sein und so was tun?

STANDARD: Sie haben sich bei der Israelitischen Kultusgemeinde entschuldigt, traten aber nicht selbst auf. Das tun Sie überhaupt selten. Kein Mann der Bühne wie Ex-ÖBB-Chef Kern?

Matthä: Ich bin mehr bei den Fakten als auf der Bühne.

STANDARD: Weil wir vorher bei der Politik waren. Sie sind SPÖ-Mitglied, aber nicht aktiv, wie Sie betonen. Nie mit den Eisenbahnern beim Maiaufmarsch mitgegangen?

Matthä: Nein, den hab ich mir nur einmal angeschaut. War eine interessante Stimmung. Ich bin der SPÖ 2001 oder 2002 beigetreten. Damals war ich Arbeitgebervertreter in der Sozialversicherung, und man hat mir gesagt: "Du musst da jetzt raus, weil du bist ein Roter." – "Aha, ich bin ein Roter, dann sollte ich auch der Partei beitreten", hab ich mir gedacht und habe das getan. Und fortan immer rote Krawatten getragen. Jetzt tu ich das nimmer.

STANDARD: Haben Sie bei der Abstimmung für den SPÖ-Chef oder die SPÖ-Chefin mitgetan?

Matthä: Ja, aber ich werde Ihnen nicht sagen, für wen ich gestimmt habe.

STANDARD: Sie haben als deklarierter Roter die schwarz-blaue Regierungszeit überlebt, verstehen sich mit dem blauen ÖBB-Holding-Finanzvorstand Arnold Schiefer gut. Sie gelten als harmoniebedürftig und konfliktscheu. Sind Sie das?

Matthä: Ich kategorisiere Menschen nicht nach ihrer Parteizugehörigkeit, sondern nach ihrem Verhalten. Hat jemand eine andere Interessenlage, will ich den Grund dafür verstehen, weil manchmal stecken dahinter ja gute Ideen, und die kann man nützen. Streithansl bin ich sicher keiner, und ja, Harmonie ist mir wichtig.

Bilanz, ÖBB, Schiefer, Matthä
PK Konzernbilant 2022
ÖBB-Chef Andreas Mätthä (SPÖ) und ÖBB-Finanzchef Arnold Schiefer (FPÖ) bei einer Bilanzpräsentation.
APA/ÖBB/Andreas Scheiblecker

STANDARD: Weniger konfliktscheu waren Sie beim Streik Ende 2022, den nannten Sie unverhältnismäßig.

Matthä: Wir hatten schon im Herbst gegenüber den Arbeitnehmervertretern eingeräumt, dass die niedrigsten Gehälter auf 2.000 Euro brutto im Monat erhöht werden müssen, weil uns Leute davongelaufen sind, die anderswo um hundert Euro mehr bekommen. Reinigungspersonal etwa, das 1.700 oder 1.800 Euro brutto im Monat verdient hat. Unser Angebot war fair, deswegen war es schade, dass es trotzdem zu einem Streik kam.

STANDARD: Wie viel verdienen Sie?

Matthä: Um die 600.000 Euro brutto im Jahr.

STANDARD: Warum hängt in Ihrem Büro am Hauptbahnhof unter einem Spiegel der Artikel 1 der Menschenrechtskonvention, wonach alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind?

Matthä: Das ist mein Lebensmotto, mir sind Humanismus und Toleranz wichtig. Und nach Entscheidungen möchte ich mich in den Spiegel schauen können. Ich musste ihn noch nie verhängen.

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht's im Leben?

Matthä: Darum, eine Welt zu hinterlassen, die für die nächsten Generationen lebenswert ist. Da gibt es viel zu tun. (Renate Graber, 4.6.2023)