Komponist George Lewis
"Song of the Shank"-Komponist George Lewis (Bild) kann sich durchaus mit Blind Toms Biografie identifizieren: „Rassismus drückt sich am häufigsten durch Ignoranz aus.“ In der Regie von Stan Douglas spielt das Ensemble Modern unter Vimbayi Kaziboni.
Alison Luntz

Ein sonniger Montagmorgen in New York. Aus George Lewis’ Apartment in Downtown Manhattan sieht man alte Backsteinbauten und die Bäume eines angrenzenden Gemeinschaftsgartens. "Ich sitze auf gepackten Koffern", lacht Lewis und erzählt beim Zoom-Gespräch von seiner an­stehenden Reise nach Frankfurt, wo Song of the Shank konzertant aufgeführt wird.

Die Wiener Festwochen zeigen die szenische Uraufführung. Das Monodrama basiert auf Jeffery Renard Allens gleichnamigem Roman über den blinden Komponisten und Klaviervirtuosen Thomas Wiggins.

Wiggins, der 1849 geboren wurde und als Sklave auf einer Plantage in Georgia aufwuchs, entpuppte sich bald als Wunderkind. Mit fünf fing er an zu komponieren, konnte Mozart und Liszt nach dem Gehör spielen sowie fabelhaft improvisieren, und er spielte 1860 als erster schwarzer Künstler im Weißen Haus vor Präsident James Buchanan.

Von Ruhm und Sklaverei

"Blind Tom / Half Man, half Amazing / The Eighth Wonder of the World", heißt es in der 1. Szene von Lewis’ Song of the Shank. Tatsächlich wurde "Blind Tom", der über ein phänomenales Gedächtnis verfügte, aber kaum sprach, als "achtes Weltwunder" gefeiert und ging mit 16 Jahren sogar auf Welttournee.

"In seinem Roman erzählt Allen, was Tom erlebt haben könnte", so Lewis. Da es im Buch keine Dialoge zum Vertonen gab, entschied sich der Autor, zusammen mit dem Komponisten ein neues Libretto zu schreiben.

"Im Stück gibt es drei Blind-Tom-Figuren: als Sänger, Solopianist und Ensemble." Für den 70-Jährigen beleuchtet Song of Shank die unterschiedlichen Facetten von Toms Persönlichkeit. "Er spricht über sein Leben und seine Erfahrungen. Wir erfahren auch, wie er dazu kam, Musik zu machen", so Lewis. Das Werk handelt von Innen- und Außenwahrnehmung, von Sklaverei und der Vergänglichkeit von Reichtum und Ruhm.

Die verschiedenen Erzähl- und Handlungsebenen spiegeln sich auch in Lewis’ Musik wider. Die Klänge sind fragmentarisch und lyrisch zugleich; jede Art von Stabilität wird sofort infrage gestellt.

Geschichte schwarzer Komponisten

"Toms Geschichte ist ein Teil dessen, was schwarze Komponistinnen und Komponisten weltweit erleben", sagt Lewis. "Sie werden ignoriert und gezwungen, in einer Art Prekariat zu leben. Diesen Aspekt drückt meine Musik aus. Die Melodien, Klangfarben und Rhythmen verschieben sich ständig."

Wiggins starb 1908. In Song of Shank beschreibt George Lewis, wie Tom die Menschen beobachtet, während er unter der Erde liegt. "Ich konnte euch alle noch hören / Oben herumwuseln / Hörte Trauer / In Stein gemeißelte Worte." Tom kehre von den Toten zurück, um uns zu erlösen, sagt Lewis: "Ich finde, das ist ein wunderbarer Gedanke." (Miriam Damev)

Mit Robotern in der Schule

Joël Pommerats Contes et légendes
Diese "Märchen und Legenden" vom Erwachsenwerden spielen in einer von Technologie regierten Zukunft.
Elisabeth Carecchio

Aktueller kann Theater nicht sein. Joël Pommerats Contes et légendes („Märchen und Legenden“) hatte 2019 Premiere, als von ChatGPT noch keine Rede war. Hier geht’s um das nächste Level: den Beistand von "intelligenten" Androiden beim Lernen in der Schule.

Dabei sind die Maschinen in humaner Gestalt allerdings Medien für eine Coming-of-Age-Geschichte, die von den Problemen sehr heutiger Youngsters handelt. Ausgangspunkt ist die Art, wie sich junge Menschen im Wechselspiel mit gesellschaftlichen Regeln und Vorstellungen "zusammenbauen". Diese Selbstkon­struktion verbindet Pommerat (60) mit dem Mythos vom künstlichen Wesen. In seiner futuristischen Welt leben Menschen mit sozialen Robotern zusammen.

Bei Contes et légendes werden das Spektakel der Science-Fiction und Wertungen über Gut oder Böse der künstlichen "Intelligenz" vermieden. Stattdessen werden die Szenen auf der Bühne von Einfühlung in die krisenhafte Komplexität des Erwachsenwerdens geprägt. (Helmut Ploebst)

Sag ja zur Auslöschung

Carine Goron
Carine Goron von Gosselins Gruppe Si vous pouviez lécher mon cœur trifft Wiener Worte und Berliner Mimen.
Simon Gosselin

Julien Gosselins Werke gelten als süchtigmachend: etwa Players, Mao II und The Names nach drei Romanen von Don DeLillo. Oder 2666, die Dramatisierung von Roberto Bolaños gleichnamigem Roman: Sie wurde im deutschen Feuilleton mit dem Titel "gewaltiges Epochenkunstwerk" geadelt.

Jetzt kommt erstmals eine Arbeit des französischen Regisseurs nach Wien, und noch dazu eine, in dessen Zentrum Österreich als "Versuchsstation des Weltuntergangs" (Karl Kraus) steht. Auf den Wortschwingen von Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal lässt Gosselin seinen Dreiteiler Extinction (Auslöschung) über die Bühne rauschen: als Konzert, Video-Film-Set und Inszenierung eines radikalen Worttheaters.

Seit der Gründung seiner eigenen Theatergruppe hat sich der 36-Jährige stets auf diese konzentriert. Für Extinction holt er nun Personal aus der Berliner Volksbühne dazu, um das Publikum im wahrsten Sinn des Wortes ins Geschehen hineinzuziehen. (Helmut Ploebst, 2.6.2023)