Die beiden Austrotürken Musa Üzulmez (links) und Barış Erdem (rechts) in der Favoritenstraße im zehnten Bezirk, einem der Zentren türkischen Lebens in Wien.
Regine Hendrich

Musa Üzulmez legt den Arm um seinen Freund. Eine über 20-jährige Beziehung verbindet Musa Üzulmez mit Barış Erdem, beruflicher und privater Natur. Die beiden sind aber auch Gegner, zumindest politisch gesehen. Sie repräsentieren jeweils eines der zwei Lager, in die sich die Türkei gespalten hat: jenes, das sich über den erneuten Wahlsieg Recep Tayyip Erdoğans freut – und jenes, das ein drittes Jahrzehnt unter der Herrschaft des konservativ-religiösen Präsidenten verhindern wollte.

Spannung in Favoriten

Am vergangenen Sonntag ging ein hoch emotionalisierter Wahlkampf zu Ende, der auch nach Österreich geschwappt ist. In Wien entlud sich die Spannung hier in Favoriten, einem der Zentren türkischen Lebens in der Hauptstadt. In der Favoritenstraße, einer der wichtigsten Straßen in der Gegend zwischen Reumann- und Keplerplatz, arbeiten Üzulmez und Erdem in einem Haushaltsgeschäft, das Erdems Frau gehört. Erdem kümmert sich um das Operative. Üzulmez schlichtet Teetassen, Tischtücher und Waschmittel, auch im Außenbereich sorgt er für Ordnung. Üzumlez, Team Erdoğan, sagt: "Ich freue mich, dass Erdoğan gewonnen hat." Erdem, Team Opposition, sagt: "Das Land braucht Veränderung."

Musa Üzulmez, 50 Jahre alt, stammt aus der Stadt Sakarya in der gleichnamigen Provinz im Nordwesten der Türkei. Seit über 40 Jahren lebt er in Österreich, er ist Schlosser und Maurer, hat hier als Gärtner gearbeitet, als Lagerarbeiter, Verkäufer und seit 23 Jahren eben in dem Laden, der Barış Erdems Frau gehört. Üzulmez sagt, Erdoğans Sieg sei "ein Sieg für die Türkei". Er habe dem Land Stärke und Freiheiten gebracht. Die Straßen seien besser, die Schlaglöcher weg. Sein Sohn fahre einen BMW und brettere mit über 200 Stundenkilometern durchs Land. Die Lage der Kurden in der Türkei sei besser als früher, das sei ein Fortschritt, ebenso wie die vereinfachten Amtswege. Wenn Üzulmez von Freiheiten spricht, dann meint er auch: dass Frauen nun überall, etwa auch an Universitäten, Kopftuch tragen können. So sieht es Üzulmez.

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Eine komplizierte Beziehung

Erdem hingegen sagt, er habe Erdoğan auch einmal gewählt, ganz zu Beginn. Aber jetzt sei ihm der Präsident "zu stark geworden": Als Person sei es okay, mit einer solchen Stärke aufzutreten. Aber der Präsident führe das Land zu aggressiv und zu engstirnig. Er sei zu sehr nach rechts gerückt. Der Wirtschaft gehe es schlecht. Erdem, 46 Jahre alt, in der Metropole Istanbul geboren, studierter Politikwissenschafter, lebt seit 20 Jahren in Wien. Über Üzulmez sagt er: "Er hat das größte Herz, das man sich vorstellen kann. Ihm würde ich eine Million Euro anvertrauen. Aber politisch habe ich ihn noch nicht auf meine Seite ziehen können." Erdem lacht, Üzulmez auch.

Österreich und seine türkische Community, das ist eine schwierige Beziehung. Wie stark sie von Unkenntnis und Ressentiments geprägt ist, hat die Wahl in der Türkei wieder gezeigt. Seit hunderte Jugendliche in Favoriten zuerst den türkischen Wahlsieger und später den türkischen Fußballmeister Galatasaray Istanbul feierten, versucht man die Türkei-Fahnen schwenkenden Massen zu interpretieren. Von politischer Seite wird der Jubel für den türkischen Präsidenten als Zeichen misslungener Integration gesehen. Fachleute erkennen jedoch ein Bündel an Faktoren, darunter auch verletzende Erfahrungen.

Starkes Werben

In der Favoritenstraße, die selbst einige Austrotürken "türkische Straße" nennen, will kaum jemand seinen Namen und seine politischen Sympathien in einem österreichischen Medium veröffentlicht sehen. Manche führen Sprachbarrieren an, andere erklären in fehlerlosem Deutsch, dass das Privatsache sei. Ein türkischstämmiger Österreicher mutmaßt, dass viele negative Konsequenzen befürchten – in beide Richtungen. Wer gegen Erdoğan gestimmt habe, sorge sich vor der Reaktion anderer Türken. Wer für Erdoğan gestimmt habe, befürchte Konsequenzen durch die österreichische Seite – bis hin zum Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft.

Schließlich waren bei den Wahlen nur Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft wahlberechtigt. Doppelstaatsbürgerschaften sind in Österreich in der Regel nicht erlaubt. Wer hierzulande die Staatsbürgerschaft der neuen Heimat beantragt, muss also jene der alten ablegen – theoretisch.

Um die Türkischstämmigen in Österreich wurde vor der Wahl intensiv geworben: Es gab mehr Wahllokale, die Stimmberechtigten wurden kontaktiert und zu den Urnen chauffiert. Erdoğan regiert die Türkei bereits 20 Jahre, ab 2003 als Ministerpräsident, seit 2014 als Präsident. Nun musste er das erste Mal um sein politisches Überleben kämpfen. In der ersten Wahlrunde hatte Erdoğan die nötige Mehrheit verfehlt.

"Er hat das größte Herz. Ihm würde ich eine Million Euro anvertrauen. Aber politisch konnte ich ihn noch nicht auf meine Seite ziehen." Barış Erdem über Musa Üzulmez
Regine Hendrich

Gute Resultate für den Präsidenten

Würden nur jene Türkinnen und Türken entscheiden, die in Österreich zur Wahl gingen, hätte sich Erdoğan die Stichwahl gegen seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu erspart. Sie stimmten bereits im ersten Durchgang mit großer Mehrheit für den Amtsinhaber, im zweiten ware es mit 74 Prozent noch mehr. In mehreren europäischen Ländern mit großen türkischen Communitys hat die AKP besser abgeschnitten als in der Türkei selbst. So gut wie in Österreich war das Resultat im Rest der EU sonst nur in Belgien.

Der neue alte Präsident hat überall dort eine loyale Wählerschaft, wo es sich um klassische Aufnahmeländer für Arbeitsmigranten der 1960er-Jahre handelt. Sie kamen mehrheitlich aus konservativen ländlichen Regionen der Türkei, wo Erdoğan tendenziell überproportional gut abschneidet. Das wirke auch in Österreich "generationsübergreifend nach", sagt der Soziologe Kenan Güngör. Selbst in der dritten Generation hätten Türkischstämmige nach wie vor das Gefühl, "bestenfalls geduldet zu sein". Durch Erdoğan erführen sie besonders in Wahlkämpfen einen ganz anderen Selbstwert und Stolz, sagt Güngör.

"Zunehmende Extremisierung"

Darauf setzte auch die Regierungspropaganda in türkischen Medien, die auch hier konsumiert werden. Güngör befindet, die Feiern in Favoriten seien "nicht das Problem" gewesen, sondern, dass "einem autoritären Regime zugejubelt" wurde. Der Islamexperte sieht deshalb ein "tieferliegendes demokratiepolitisches Problem", das nicht verharmlost werden dürfe. Dass das verbotene Handzeichen der rechtsextremen Gruppierung der Grauen Wölfe bei den Feiern gesichtet wurde, mache die "zunehmende Extremisierung" dieser Wählerschaft deutlich. Aber: "Wir haben die größeren Hebel hier, haben die nicht genützt – beklagen jetzt aber, dass die Türkei all ihre Hebel in Bewegung gesetzt hat."

Üzulmez sagt, die Autokorsos bei den Feierkundgebungen hätten den Verkehr nicht aufhalten sollen. Aber grundsätzlich seien die Feiern kein Problem. Erdem erwidert, wer hier lebe, solle nicht bei türkischen Urnengängen wählen. Dann muss Erdem weg, er umarmt seinen Freund zum Abschied. Üzulmez sagt: "Selbst dass türkische Männer einander umarmen, verstehen die Österreicher nicht." (Anna Giulia Fink, 4.6.2023)