Jürgen Gottschlich aus Istanbul

Als Recep Tayyip Erdoğan am Samstagabend nach seiner Vereidigung als neuer Präsident der Türkei zu seiner Inaugurationsrede anhob, waren die Vertreter der Opposition weitgehend abwesend. Trotzdem richtete sich Erdoğan hauptsächlich an sie. Das Land solle wieder vereint werden, er werde ein Präsident für alle Türken und Türkinnen sein. Bei der Opposition erntete er damit nur Kopfschütteln, zu oft war ähnlichen Reden Erdoğans die gegenteilige Politik gefolgt.

Türkei, Kabinett, Erdogan
Gruppenbild mit einer Dame: Nur eine Frau, Mahinur Göktas, zuständig für Familie und Soziales, kommt ins Kabinett.
AP/Ali Unal

Doch als er anschließend sein neues Kabinett vorstellte, gab es einige Überraschungen. Wichtig für die Opposition: Der rechtsradikale, ideologisch völlig überdrehte Innenminister Süleyman Soylu wird durch den Bürokraten Ali Yerlikaya ersetzt. Yerlikaya war zuletzt Gouverneur von Istanbul, davor schon Gouverneur in mehreren kleineren Provinzen. Er hat zwar in Istanbul keine demokratischen Akzente gesetzt, aber man kann davon ausgehen, dass er nicht den geradezu messianischen Verfolgungseifer gegenüber jedem Regierungskritiker an den Tag legen wird, durch den sich Soylu ausgezeichnet hat.

Zwei bemerkenswerte Entscheidungen

Insgesamt hat Erdoğan nahezu sein gesamtes Kabinett ausgetauscht. Außer dem Gesundheits- und dem Kulturministerium sind alle Posten neu besetzt worden. Am bemerkenswertesten sind dabei zwei Namen: Mehmet Şimşek als neuer Finanzminister und Hakan Fidan als neuer Außenminister.

Kabinett, Şimşek, Bayraktar, Erdoğan
Erdoğan mit den Neo-MinisternMehmet Şimşek (Finanzen) und Alparslan Bayraktar (Energie).
REUTERS

Mit Mehmet Şimşek deutet sich eine komplette Kehrtwende in Erdoğans Finanz- und Wirtschaftspolitik an. Erdoğans bisheriges Credo, mit niedrigen Zinsen würde die Inflation bekämpft, hat die türkische Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs geführt. Die Inflation ist eine der höchsten weltweit, und die türkische Lira ist praktisch zu einer Schrottwährung verkommen. Bis 2018 war Şimşek fast zehn Jahre lang Finanzminister gewesen, dann startete Erdoğan nach seiner Wahl zur ersten Amtszeit als alleinherrschender Präsident seine eigene Wirtschaftspolitik. Er warf Şimşek damals hinaus und ernannte seinen Schwiegersohn Berat Albayrak zum neuen Finanz- und Wirtschaftsguru der Regierung. Damit begann der Absturz.

Eingeständnis des Scheiterns

Dass Erdoğan Şimşek jetzt zurückholt, ist das Eingeständnis seines eigenen Scheiterns. Şimşek hat am Sonntag bereits angekündigt, dass er die Finanzpolitik wieder auf "rationale Grundlagen" zurückführen will. Er ist in Finanzkreisen anerkannt und war 2009 Investmentbanker bei der Großbank Merrill Lynch.

Der neue türkische Außenminister Minister Hakan Fidan.
APA/AFP/ADEM ALTAN

Neben Şimşek rückt mit Hakan Fidan ein weiteres Schwergewicht in Erdoğ ans Kabinett. Fidan war seit 2010 Chef des türkischen Geheimdienstes und ist einer der engsten politischen Vertrauten Erdoğans. Er hat in den vergangenen Jahren praktisch den Kampf gegen die PKK koordiniert, war aber 2011 bis 2015 auch derjenige, der die letztlich gescheiterten Verhandlungen über einen dauerhaften Waffenstillstand führte. Fidan kommt vom Militär und hat als junger Offizier bei der Nato gearbeitet. Sowohl Fidan wie auch Şimşek gehören innerhalb der türkischen politischen Klasse eher zu den Transatlantikern.

Unter den 18 Kabinettsmitgliedern ist nur eine Frau. Mahinur Göktas, zuständig für Familie und Soziales kommt aus Belgien und war dort für die belgischen Christdemokraten im Parlament. Als Gast bei Erdogans Vereidigung war auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und der frühere schwedische Ministerpräsident Carl Bildt. Weiterer Überraschungsgast war der armenische Präsident Nikol Paschinjan. (Jürgen Gottschlich, 4.6.2023)