Am Montag hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg im jahrelangen Streit um Polens Justiz ein weiteres Urteil veröffentlicht. Die EU wirft der Regierung in Warschau vor, mit ihren Justizreformen die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben. Erneut wurde Polen verurteilt: das Gesetz aus dem Jahr 2019 verstoße gegen EU-Recht, befanden die Richter.

Der Europäische Gerichtshof gab damit einer Klage der EU-Kommission (C-204/21) statt. Insbesondere die inzwischen abgeschaffte Disziplinarkammer für Richter habe die richterliche Unabhängigkeit untergraben.

Frage: Worum geht es in dem Urteil?

Antwort: Hintergrund des Urteils ist eine Klage der EU-Kommission. Diese hatte im Jahr 2021 Warschau vorgeworfen, dass mehrere gesetzliche Regelungen in Polen gegen EU-Recht verstoßen würden. Bei diesen Vorwürfen dreht es sich um die Unabhängigkeit der Justiz bei der Überprüfung von EU-Recht und die Rechte von Richtern auf Achtung ihres Privatlebens. Das Urteil könnte auch Auswirkungen auf das Zwangsgeld haben, das gegen Polen in einem Eilverfahren verhängt worden war.

EuGH
Der EuGH in Luxemburg ist seit Jahren mit Verfahren gegen Polen beschäftigt.
imago images / Patrick Scheiber

Frage: Was steht im Zentrum des Konflikts zwischen Brüssel und Warschau?

Antwort: Bereits seit Anfang 2016 geht die EU gegen Polen vor. Damals hatte Polen mit einem Umbau des Justizsystems begonnen. Mehrere Justizreformen spießen sich jedoch mit dem EU-Recht. Aus Sicht Brüssels wird damit die Gewaltenteilung untergraben, und es wird die Unabhängigkeit der Justiz beschnitten. Warschau wurde vom EuGH deshalb bereits mehrmals verurteilt. Die EuGH-Richter verwarfen ein polnisches Gesetz aus dem Jahr 2017, mit dem das Pensionsalter der polnischen Richter herabgesetzt und dem Justizminister gleichzeitig die Möglichkeit eingeräumt wurde, einzelne Richter in ihrem Amt zu verlängern. Auch eine unabhängige Überprüfung von Rechtsmitteln gegen die Versetzung von Richtern wurde seitens des EuGH eingemahnt.

Frage: Was bezweckt die polnische Regierung mit den Justizreformen?

Antwort: Im Zentrum der Justizreformen stand eine Neuausrichtung der Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof. Diese Kammer ist für Disziplinarverfahren zuständig, die gegen Richter an ordentlichen Gerichten wie auch am Höchstgericht selbst durchgeführt werden. Die Mitglieder dieser Kammer werden vom Präsidenten berufen, der sie vom Landesjustizrat vorgeschlagen bekommt. Der Landesjustizrat wiederum wird von der Abgeordnetenkammer gewählt. In der Disziplinarordnung wurde als Neuerung eingeführt, dass auch der Inhalt eines Urteils sowie die Vorlage eines Verfahrens beim EuGH ein Disziplinarverfahren gegen die verantwortlichen Richter auslösen können. Der EuGH verwarf diese Disziplinarkammer in einem Eilverfahren als rechtsstaatswidrig.

Frage: Welche Konsequenzen hatte das Vorgehen der EU gegen die Justizreformen für Warschau?

Antwort: Der EuGH verhängte wegen der Disziplinarkammer ein Zwangsgeld von einer Million Euro pro Tag. Diese Strafzahlung war ab April 2021 fällig. Im April dieses Jahres wurde sie auf die Hälfte reduziert, weil Polen inzwischen die Disziplinarkammer wieder abgeschafft hat. Das aktuelle Urteil vom Montag wird auch Einfluss auf künftige Entscheidungen bezüglich dieses Zwangsgelds haben: Es beschließt ein Verfahren, das sich mit den 2019 beschlossenen Abänderungen der Disziplinarkammer und der Disziplinarordnung beschäftigt. Die EU-Kommission hatte das erneute Verfahren angestrengt, weil auch die Änderung die Unabhängigkeit der Richter nicht gewährleiste und sie außerdem in der Möglichkeit eingeschränkt würden, sich in ihren Verfahren auf das EU-Recht zu berufen.

Frage: Wie reagiert die Regierung in Warschau?

Antwort: Aus Polen kam erwartungsgemäß Kritik. Eine erste Reaktion gab es von Justizminister Zbigniew Ziobro: "Das Urteil wurde nicht von Richtern geschrieben, sondern von Politikern. Es ist ein klarer Verstoß gegen die europäischen Verträge, ein Übergriff des EuGH in Kompetenzen, die er nicht hat", sagte Ziobro. "Es gibt kein Land auf der Welt, in dem Richter den Status anderer Richter hinterfragen können."

Frage: Ist mit dem aktuellen Urteil die Causa Justizreform abgeschlossen?

Antwort: Nein, die Angelegenheit geht weiter. Im Februar hat die EU-Kommission eine weitere Klage gegen Warschau angestrebt. Sie dreht sich  um Verstöße des polnischen Verfassungsgerichtshofs gegen EU-Recht. (Michael Vosatka, red, APA, 5.6.2023)