Mann steht vor einem Pissoir in einer öffentlichen Toilette
Was eigentlich selbstverständlich klingt, wird für manche Menschen zum Problem – wer unter einer schüchternen Blase leidet, tut sich schwer damit, vor anderen Leuten zu urinieren.
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"Mit etwa zwölf Jahren stand ich vor dem Pissoir und wurde von hinten so stark gestoßen, dass ich mir fast die Vorderzähne ausschlug. Ich denke, das war der Auslöser. Ich bekam die Angststörung Paruresis, besser bekannt als schüchterne Blase", erzählt Manuel aus Wien (Name von der Redaktion geändert). Wer wie er unter einer schüchternen Blase leidet, hat Probleme damit, in der Öffentlichkeit bzw. wenn andere Personen in der Nähe sind, zu urinieren. Wie viele Menschen von Paruresis betroffen sind, darüber gibt es keine aussagekräftigen Zahlen. Fachleute gehen davon aus, dass die Dunkelziffer extrem hoch ist. Denn viele Betroffene trauen sich teilweise über Jahrzehnte hinweg nicht darüber zu sprechen. "Dieses Thema ist so schambehaftet. Manche Menschen in diversen Foren berichten, dass sie bereits über zwanzig oder sogar dreißig Jahre unter einer schüchternen Blase leiden und nicht einmal ihren Ehepartnern oder Ehepartnerinnen davon erzählt haben," sagt Manuel.

Nach dem Vorfall auf dem Pissoir begann er immer häufiger öffentliche Toiletten zu meiden oder suchte diese nur auf, wenn niemand sonst in der Nähe war. Er erzählt: "Ich glaube dieses eine Erlebnis hat sich so stark in mein Unterbewusstsein gebrannt. Jedes Mal, wenn ich in einer ähnlichen Klo-Situation war, wurde ich wegen der Erwartungserhaltung nervös. Es ist ein Teufelskreis. Der Körper signalisiert Gefahr und stellt sich auf Kampf oder Flucht ein, bevor man die Toilette betritt. Und dann geht gar nichts mehr."

Männlichkeit wird infrage gestellt

Rein körperlich gesehen verspannt sich die Blase so sehr, dass die Personen nicht mehr loslassen können. "Das Ganze passiert mehr oder weniger immer dann, wenn man sozialem Druck ausgesetzt ist," erklärt Johannes Lanzinger, Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe bei Phobius, einem Zentrum zur Behandlung von Panik, Angst und Phobien, in Wien. Vor allem Männer zwischen 18 und Mitte 20 kennen dieses Problem. "In dieser Zeit geht es darum, seine Männlichkeit zu finden und sich zu behaupten. Vielen passiert es dann, dass sie beim Pissoir stehen und es kommt nichts. Manchmal hört man dann auch dumme Sprüche von den Freunden," sagt Lanzinger. Bei den meisten legt sich dieses Problem schnell wieder. Bei manchen aber bleibt es und wird sogar immer schlimmer, bis es sich schließlich zu einer Angststörung manifestiert. Es gibt auch Frauen, die unter einer schüchternen Blase leiden, aber beim Großteil handelt es sich um Männer. "Gerade das Pissoir trägt dazu bei, dass es zu einer Paruresis kommen kann. Oftmals steht man sich Gegenüber beim Pinkeln und muss sich manchmal auch komische Kommentare von anderen Männern anhören. Wenn es dann nicht klappt, wird schnell die eigene Männlichkeit in Frage gestellt", sagt der Psychologe. 

Als Manuel dann zur Stellung fürs Bundesheer muss, wird ihm zum ersten Mal richtig bewusst, dass bei ihm etwas anders ist als bei den anderen Burschen. "Als der Brief kam, wusste ich, dass man beim Termin auch eine Urinprobe abgeben muss. Also im schlimmsten Fall direkt vor einer fremden Person pinkeln muss. Je näher der Tag rückte, umso nervöser wurde ich", erinnert er sich. Er begann im Internet nach einem Grund für seine Angst zu suchen und fand zumindest den Namen: Paruresis. "Schnell wurde mir klar, dass das etwas ist, über das einfach niemand sprechen mag. Auch ich habe ja bis zu diesem Zeitpunkt niemanden davon erzählt."

Andere könnten etwas bemerken

Die Betroffenen sprechen also nicht darüber und versuchen aus Scham ihre Angst so gut es geht zu verstecken. Psychologe Lanzinger sagt: "Es gibt Personen, die etwa auf Geschäftsreise 48 Stunden gar nicht urinieren. Wie schmerzhaft das sein muss, kann man sich wahrscheinlich kaum vorstellen. Oftmals trinken sie dann auch wenig bis gar nichts, damit der Druck in der Blase nicht zu groß wird, was natürlich zu Dehydrierung führen kann." 

Wie bei den meisten sozialen Phobien, spielt auch bei der schüchternen Blase eine starke Selbstabwertung eine große Rolle. "Die Personen fühlen sich nicht normal. Sie haben immer die Angst, dass die Menschen um sie herum etwas ahnen könnten. Oftmals suchen sie statt dem Pissoir die Kabine auf und versuchen auch dort möglichst leise zu urinieren, nur damit niemand sie bemerkt", erklärt der Psychologe. "Bei einigen ist es aber auch so schlimm, dass sie sich immer weiter aus dem sozialen Leben zurückziehen und Bars oder Restaurants meiden." Bei manchen können traumatische Erlebnisse zu einer Paruresis führen, ähnlich wie bei Manuel, bei anderen ist der Auslöser hingegen nicht so klar. 

Manuel hat es dann tatsächlich geschafft, bei der Stellung seine Urinprobe abzugeben: "Die Zeit bis dahin war aber die absolute Hölle. Ich hatte schreckliche Angst davor." Danach beschloss er, sich Hilfe zu holen und tauschte sich in Foren mit anderen Betroffenen aus und fand auch psychologische Hilfe. Er erzählt: "Irgendwann nahm ich dann meinen ganzen Mut zusammen und erzählte einer Freundin von meinem Problem. Das hat alles verändert. Ich habe bemerkt, dass ich mich dafür nicht schämen muss."

Sich der Situation stellen

Da Manuel während seiner Recherche bemerkte, dass es nur sehr wenige Anlaufstellen und kaum Infos zu dem Thema gibt, beschloss er dagegen etwas zu tun. "Es gibt bisher nur wenige Fachleute, die sich mit dem Thema beschäftigen. Selbst viele Urologen und Urologinnen, wissen nicht, dass es diese Angststörung gibt. Darum habe ich mit zwei anderen Betroffenen den Verein Austrian Paruresis Association (ATPA) und eine Selbsthilfegruppe gegründet." Man kann sich dort ganz anonym austauschen und auch melden, wenn man Hilfe in Anspruch nehmen möchte. "Im September findet auch ein von uns organisierter Workshop statt. Dort geht es vor allem darum, sich auszutauschen, festzustellen, dass man nicht allein ist und natürlich werden auch Fachleute dabei sein," erzählt er. (Nähere Infos dazu unten im Infokasten) 

Bei dem Workshop können sich Betroffene also vor allem austauschen, es werden verschiedene Entspannungsübungen gezeigt, und dann gibt es noch die sogenannten Pee-Buddys. Psychologe Lanzinger erklärt: "Am zweiten Tag, nachdem man sich kennengelernt und ausgetauscht hat, tun sich immer zwei Teilnehmer oder Teilnehmerinnen zusammen und gehen in verschiedene Lokale oder öffentliche Toiletten. Beide versuchen sich dann ihren Ängsten zu stellen und probieren auf einer öffentlichen Toilette zu urinieren. Da der Pee-Buddy die Ängste des anderen sehr gut kennt und sich beide in der gleichen Situation befinden, fällt es leichter, sich seinen Ängsten zu stellen." (Jasmin Altrock, 9.6.2023)