Die politischen Vertretungen ukrainischer Gemeinden unter russischer Okkupation sind gezwungen, aus dem Exil zu arbeiten. So auch die Verwaltung der Orte um den Staudamm Nowa Kachowka am linken Ufer der Dnjepr. Oleg H. (Name geändert) ist der stellvertretende Verwaltungschef einer dieser Gemeinden. Den genauen Ort, den er vertritt, darf er nicht nennen, und auch sein Name muss geändert werden. Zwei Monate hat er versucht, unter dem Okkupationsregimen zu arbeiten, ist dann aber auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet geflohen. Nach dem katastrophalen Dammbruch warnt er vor dramatischen Folgen für die Menschen und den Getreideanbau in der Südukraine.

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DER STANDARD

STANDARD: Was war die Ausgangssituation um den Damm vor der Katastrophe am Dienstag?

H.: Im November, als sich die Besatzer (vom rechten Ufer des Dnjepr, Anm.) zurückzogen und die ukrainische Armee Cherson befreite, haben die Russen die Auto- und Eisenbahnbrücken über den Damm gesprengt. Der Damm wurde dabei auf einer Seite beschädigt. Konkret wurden die Tore beschädigt: Der Damm hat insgesamt 27 Tore, drei waren beschädigt. Ebenso der Turbinenraum, der seit dem Sommer nicht mehr funktionierte. Es war auch kein Personal da. Die Russen haben die Arbeiter nicht hineingelassen. Und es wurden auch die Kräne beschädigt, mit denen die Tore gehoben werden und über die der Pegel im Reservoir reguliert wird. In der Folge hat sich also das Becken gefüllt. Sie konnten das Wasser nicht mehr regulieren. Vor etwa zwei Monaten, als die Frühjahrsflut kam, war der Pegelstand dann am höchsten – 16,5 Meter ist der vorgesehene Höchststand, und es waren mehr als 17 Meter im Reservoir. Das Wasser ist dann einfach über den Damm geflossen. Aber der Damm hielt. Er schien in Ordnung zu sein.

Am Dienstag kam es zu dem katastrophalen Dammbruch.
imago/itar-tass

STANDARD: Wurde der Damm auch vermint?

H.: Wir haben mithilfe von Drohnen gesehen, dass sie den Damm vermint haben. Am 20. Mai war ich persönlich dort. Ich habe es selbst gesehen. Also dass die Straße über den Damm vermint wurde, aber freilich nicht die Verminung des Damms selbst. Der Damm wurde aber auch unterirdisch vermint. Das bestätigen auch die Leute, die am Ufer wohnen: Die haben keine Explosion gehört, sie haben nur ein Erdbeben gespürt. Es war 3.50 Uhr nachts.

STANDARD: Was, glauben Sie, war das Ziel dieser Aktion? Gab es ein Ziel? War es ein Unfall infolge von Fahrlässigkeit?

H.: Ich glaube, die Besatzer wollten nicht den ganzen Damm sprengen. Sie haben am linken Ufer des Flusses (in Flussrichtung, Anm.) bis hinunter zum Schwarzen Meer Verteidigungsgräben und Munitionslager angelegt. Sie hatten eine Menge Munition, Fahrzeuge und Militärtechnik da. Ich glaube, sie wollten eines der Tore oder eine Sektion des Damms zerstören, um Wasser abzulassen, und haben die Sprengladung und den Druck auf den Damm unterschätzt.

STANDARD: Mit einer Sprengung des Damms war ja bereits mehrmals gedroht worden. Präsident Selenskyj hat auch bereits im Herbst 2022 eine internationale Beobachtermission für den Damm gefordert. Gab es denn Vorbereitungen seitens der ukrainischen Behörden auf eine solche Situation?

H.: Was ich sagen kann, ist: Sie zerstören einfach alles auf ihrem Weg und vor allem, wenn sie aus einem Ort abziehen. Sie haben den Damm vermint, und die ukrainischen Behörden haben auch damit gerechnet, dass sie den Damm eines Tages reparieren werden müssen. Wir haben gehofft, dass der Schaden nicht so groß sein würde. Jetzt kann der Damm nicht wiederhergestellt werden.

STANDARD: Gab es denn aktuell Kämpfe um den Damm?

H.: Es wird dort dauernd gekämpft und geschossen. Aber Artillerie kann einen solchen Damm nicht zerstören. Die Straße über den Damm konnte man deswegen zwar nicht mehr benutzen, aber die Struktur des Staudamms an sich kann nur eine in den Boden eingebrachte Mine zerstören.

STANDARD: Und zu dem Damm hatten die Ukrainer keinerlei Zugang?

H.: Das stimmt. Der Damm wurde am ersten Tag des Krieges besetzt. Am 24. Februar war das. Ich war vor Ort, als die Russen ihre Fahnen hissten.

STANDARD: Lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt sagen, ob und wie Hilfsmaßnahmen in der Region laufen können?

H.: In der Region um den Damm selbst ist die Lage nicht allzu schlimm. Da sind nur ein paar Straßen überflutet. In den Dörfern stromabwärts ist die Lage allerdings katastrophal: Da stehen etwa 70 Dörfer komplett unter Wasser – und wir haben keinen Zugang. Die Besatzer gewähren keinen Zugang. Die Menschen haben die Nacht auf den Dächern verbracht. Wer fliehen wollte, wurde von den Russen nicht weggelassen und zurückgeschickt. Alle Tiere sind tot, die Häuser sind überflutet. Am rechten Ufer ist die Situation einfacher. Es ist höher gelegen. Es gibt ein paar überschwemmte Straßen direkt am Ufer. Es gibt Freiwillige, es gibt Helfer, die jeden, der weggehen möchte, evakuieren. Die Russen beschießen das ukrainisch kontrollierte Ufer aber ununterbrochen.

STANDARD: Welche Folgen hat das Ende dieses Damms für die erweiterte Region?

H.: Die Flut ist eine Sache. Aber das Wasser wird mit der Zeit ins Schwarze Meer abfließen. Wir denken, dass es eine Woche bis zehn Tage dauern wird. In und um Nowa Kachowka sinkt der Pegel bereits. Langfristig werden die Folgen aber katastrophal sein. Das Staubecken war eine Wasserquelle für den gesamten Süden der Ukraine – eine landwirtschaftlich geprägte Region. Es gab zwei Kanäle, die von dem Becken weggeführt haben: einen auf die Krim, also vom linken Ufer wegführend, und einen vom rechten Ufer wegführend. Bis zu zehn Jahre nach dem Sieg in diesem Krieg werden diese Kanäle nicht nutzbar sein. Hunderte Unternehmen werden kein Wasser aus dem Becken entnehmen können – auch das Atomkraftwerk Saporischschja. Für alle Gemeinden im Süden der Ukraine wird es Probleme mit der Trinkwasserversorgung geben. 30 Prozent des gesamten ukrainischen Getreides und Gemüses kommen aus Cherson und dem Süden der Ukraine. Wenn die Wasserversorgung dort nicht funktioniert, werden die Folgen weltweit zu bemerken sein. Und einen neuen Damm zu bauen wird nach jetzigem Stand grob geschätzt eine Milliarde Dollar kosten.

STANDARD: Ist die Krim damit jetzt komplett ohne Wasser?

H.: Nein. Die Besatzer haben die Becken auf der Krim bis zum Anschlag gefüllt. Sie haben Reserven für etwa fünf Jahre.

STANDARD: Und welche militärischen Folgen hat diese Sprengung für die Ukraine?

H.: Für die ukrainische Armee hat das alles keine Auswirkungen. Betroffen sind vor allem Zivilisten – und zwar sehr, sehr viele. Die Schätzungen reichen von 40.000 Menschen bis 150.000 Menschen. (Stefan Schocher, 7.6.2023)