Die Statue des antisemitischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger soll nicht abgerissen, sondern mitsamt ihrem Sockel leicht gekippt werden. Dina Porat spricht sich bei problematischen Denkmälern für eine Kontextualisierung aus.
APA/GEORG HOCHMUTH

Anlässlich ihres 125-jährigen Bestehens blickt die Wirtschaftsuniversität (WU) Wien 2023 auch auf die dunklen Kapitel ihrer Vergangenheit zurück. Bei einer Veranstaltung Anfang der Woche wurden Rechercheergebnisse zu von den Nationalsozialisten vertriebenen Angehörigen der Hochschule für Welthandel, der Vorgängerinstitution der Wirtschaftsuniversität, präsentiert.

Auch die Verleihung von Ehrendoktoraten an NS-nahe Personen wurde in einem umfangreichen Forschungsprojekt durchleuchtet, nun wurde ein Widerruf bekanntgegeben: Walther Kastner (1902–1994), ein langjähriger Direktor der Österreichischen Kontrollbank für Industrie und Handel, war maßgeblich an der systematischen "Arisierung" jüdischer Unternehmen beteiligt. Die WU widerrief am Montag seine Auszeichnung.

Dass Antisemitismus in Österreich schon lange vor 1938 virulent war, thematisierte die israelische Historikerin Dina Porat in ihrem Vortrag. Die langjährige Chefhistorikerin der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem sprach über jüdisches Leben in Wien vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938, ein Leben zwischen gesellschaftlicher Akzeptanz und Ablehnung. Im Gespräch mit dem STANDARD plädierte sie dafür, problematische Vergangenheit zu kontextualisieren, ohne dabei Spuren zu verwischen.

Dina Porat
Dina Porat wäre gerne im Wiener Salon von Berta Zuckerkandl zu Gast gewesen – obwohl dort nur Tee serviert wurde.
Christian Fischer

STANDARD: Frau Porat, Sie haben sich mit jüdischem Leben in Wien in den Jahrzehnten vor der NS-Herrschaft beschäftigt. Wie verbreitet war Antisemitismus in der Kaiserstadt Anfang des 20. Jahrhunderts?

Porat: Ich habe den Eindruck, dass es in der Wiener Gesellschaft vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum "Anschluss" eine Art Teilung gab. Es gab intellektuelle und kulturelle Kreise, in denen Jüdinnen und Juden sehr prominent vertreten waren. Sie waren eine kleine Minderheit in der Bevölkerung, aber im intellektuellen Leben, in der Kunst und in der Wissenschaft spielten sie führende Rollen und waren anerkannt. Gleichzeitig wuchs aber der Antisemitismus als Reaktion auf die Emanzipation der Juden.

STANDARD: Kaiser Franz Joseph hatte 1867 das Staatsgrundgesetz unterzeichnet, das nach Jahrhunderten der Verfolgung und Diskriminierung die rechtliche Gleichstellung von Juden bedeutete. Fachte das den Antisemitismus an?

Name: Als Juden begannen, ihre Bürgerrechte in Anspruch zu nehmen und zunehmend an der Gesellschaft teilzuhaben, sich einzubringen, gab es eine Gegenreaktion. Plötzlich hieß es: Die sind überall und übernehmen alles. Obendrein kam dann noch Karl Lueger ...

STANDARD: ... der Wiener Bürgermeister von 1897 bis 1910, der mit Antisemitismus Politik machte.

Porat: Lueger war ein erklärter Rassist und Antisemit, der offen gegen Juden agitierte. Das kam in Teilen der Bevölkerung gut an, bekannterweise hat das auch Hitler sehr beeindruckt. Er erwähnte Lueger in Mein Kampf und sagte, dass er für ihn ein Vorbild in Bezug auf Ideologie und Rhetorik sei. Lueger beeinflusste aber auch noch jemand anderen, auf gänzlich andere Weise.

STANDARD: Wen meinen Sie?

Porat: Theodor Herzl, den Vater des modernen Zionismus. Herzl lebte auch in Wien, und als Lueger zum Bürgermeister gewählt wurde, war das für Herzl ein Zeichen dafür, dass die Lage für Juden in Österreich-Ungarn nicht stabil war. Er schrieb in sein Tagebuch, dass die Emanzipation und die Bürgerrechte von Juden in der Donaumonarchie nicht gesichert seien und es daher eine andere Lösung brauche. Luegers Erfolg in Wien hatte also sehr unterschiedliche Effekte.

STANDARD: Lueger und sein Erbe beschäftigen Wien bis heute. Auf dem nach ihm benannten Platz im ersten Bezirk steht sein Denkmal – seit Jahren wird über den Umgang damit gestritten. Erst vergangene Woche gab die Stadt bekannt, dass die umstrittene Lueger-Statue im Rahmen einer künstlerischen Kontextualisierung um 3,5 Grad nach rechts gekippt werden soll. Manchen ist das zu wenig, sie fordern eine Entfernung und Umbenennung des Platzes. Was ist aus Ihrer Sicht der richtige Umgang mit historisch belasteten Namen und Denkmälern?

Porat: Ich habe viel über diese Frage nachgedacht. Aber ich bin der Meinung, man kann Geschichte und Kultur nicht auslöschen. Ich finde nicht, dass Statuen abgerissen werden sollten, ich bin für eine Kontextualisierung. Eine Tafel, die jeder sehen kann, die alles erklärt: Das ist Karl Lueger, ehemaliger Bürgermeister Wiens, der rassistische und antisemitische Ideen propagiert hat. Ich sehe das übrigens genauso in der Kunst, in der Musik. Auch da begegnet uns Antisemitismus ja in vielen Facetten.

STANDARD: Wie lässt sich Antisemitismus in Musikstücken kontextualisieren?

Porat: Denken Sie etwa an die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. Das ist großartige Musik, wunderbar, aber der Text ist von christlichem Antisemitismus geprägt. Soll man das nicht mehr aufführen? Natürlich nicht. Aber wissen Sie, was die israelischen Philharmoniker machen, wenn sie die Matthäuspassion spielen? Wenn sie zur schlimmsten Passage kommen, hören sie kurz auf zu spielen, es ist eine halbe Minute still, und dann geht es weiter.

STANDARD: In Ihrem Vortrag über Akzeptanz und Ablehnung von Jüdinnen und Juden im Wien des frühen 20. Jahrhunderts geht es auch um die Schriftstellerin und Salonnière Berta Zuckerkandl. Was fasziniert Sie an ihrer Person?

Porat: Berta Zuckerkandl führte, unterbrochen vom Ersten Weltkrieg, bis 1938 einen Wiener Salon. Es war der Salon schlechthin, alle waren dort – und das, obwohl sie nur Tee servierte. Es war ein kulturelles Zentrum, in Bertas Salon trafen sich Auguste Rodin und Gustav Klimt, die spätere Alma Mahler-Werfel lernte dort Gustav Mahler kennen. Berta war auch eine talentierte Schriftstellerin und eine angesehene Journalistin. Nach dem Ersten Weltkrieg half sie außerdem Österreich enorm.

STANDARD: Wie das?

Porat: Berta hatte eine Schwester, Sophie, und die heiratete einen Bruder des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau. Als der Krieg zu Ende war, lag Österreich in Trümmern: Die Monarchie war untergegangen, es gab keine ausländischen Investitionen mehr, es fehlte an allem. Die Siegermächte waren nicht bereit, Österreich zu unterstützen. In dieser Situation traten österreichische Politiker an Berta heran und baten sie, ihre Kontakte nach Frankreich spielen zu lassen. Sie tat es: Sie schrieb an Clemenceau, mit dem sie eng verbunden war. Und er änderte tatsächlich seine Haltung.

STANDARD: Dann wurde es für Berta Zuckerkandl als Jüdin in ihrer Heimatstadt gefährlich.

Porat: Trotz allem, was sie für Österreich getan hatte, musste sie 1938 ihr Wien verlassen. Niemand hat ihr hier geholfen. Sie floh mithilfe eines französischen Freundes, musste ihr großes Haus voller Kunstwerke zurücklassen. Die Nazis kamen zwei Tage später. In ihrem Wiener Haus hingen Bilder von Klimt, aber sie starb mittellos. Klimt malte übrigens Bertas Cousine Amalie, das Bild hängt heute im Wiener Belvedere. Restituiert wurde es nicht. (David Rennert, 10.6.2023)