Olexander Scherba ist Botschafter für strategische Kommunikation im ukrainischen Außenministerium. Der langjährige Botschafter in Österreich sieht die Rolle seines ehemaligen Gastlandes im Ukrainekrieg mehrheitlich positiv, und er betont die Entschlossenheit der Ukraine, den von Russland angezettelten Krieg zu gewinnen. Ein Jahr und knapp vier Monate nach dem Angriff russischer Truppen zieht Scherba bei einem Kurzbesuch in Wien ein Re­sü­mee.

Olexander Scherba, Ex-Botschafter, Ukrainekrieg, Wien
Scherba zu Gaslieferungen: "Kann mir nicht vorstellen, dass die Ukraine irgendeinen Vertrag mit Russland verlängern würde."
Christian Fischer

STANDARD: Sie waren Botschafter in Österreich, 2022 kurz in Washington, jetzt leben Sie wieder in Kiew und arbeiten im Außenministerium. Wie muss ich mir das Leben in Kiew vorstellen?

Scherba: Am Anfang war das besonders bizarr. Die Stadt war leer, man ging durch diese stillen Straßen und fühlte sich wie in einem postapokalyptischen Film. Manchmal, um mich aufzumuntern, setzte ich Kopfhörer auf und sang mit zu ukrainischer Musik – einfach um mir Mut zu geben. Jetzt ist die Stadt wieder voll, es gibt heftigen Verkehr in den Straßen. Aber jede Nacht ist wie eine neue Episode von "Star Wars". Am Himmel blitzt und kracht es, viele Menschen gehen in die U-Bahn-Schutzräume. Ich lebe in einem Haus, das beide Weltkriege überstanden hat, in der Hoffnung, dass mein Haus ausgespart wird.

STANDARD: Viele politische Beobachter sagen, die Sprengung des Staudamms Kachowka in der Südukraine läute eine Wende im Krieg ein – die Unterstützung für Putins Krieg sinke auch in Russland. Sehen Sie das auch so?

Scherba: Die Zerstörung dieses Staudamms ist eine Tragödie für die gesamte Ukraine. Stellen Sie sich vor, jemand, dem Österreich nichts bedeutet, drückt auf einen Knopf, und die gesamte Steiermark ist weg. Das war jener Teil der Ukraine, wohin wir als Schüler gereist sind, wo wir unsere Ferien verbracht haben, unsere Flitterwochen – das schönste Stück der Ukraine ist nun einfach auf Jahrzehnte zerstört. Was die breite Bevölkerung in Russland betrifft, bin ich nicht allzu optimistisch, dass die Unterstützung für Putin nachlässt. Die wurde seit zwei Jahrzehnten indoktriniert, Putin "in guten und in schlechten Zeiten" zu unterstützen. Aber in den Eliten tut sich etwas. Wagner-Söldner-Chef Prigoschin ist hier nur ein Symptom. Putin hat nicht nur einen Fehler gemacht, er hat die Zukunft Russlands zerstört, seine Reputation. Aber ich bin überzeugt: Dieses ganze System Putin ist an ihn persönlich gebunden. Er ist der beliebte Führer, sogar Menschen, die diesen Krieg für einen Fehler halten, folgen ihm. Wenn er nicht mehr da ist, wird hoffentlich auch der Krieg nicht mehr da sein.

STANDARD: Ist die ukrainische Bevölkerung kriegsmüde? Man hört, das Rekrutieren junger Soldaten werde zunehmend schwieriger.

Scherba: Die Umfragen spiegeln keine Kriegsmüdigkeit wider. Man ist absolut überzeugt, dass dieser Krieg gewonnen werden kann und dass der Friede nicht aufgrund territorialer Zugeständnisse erfolgen kann. Was ich sehe, ist zunehmende Verbitterung. Die Menschen verlieren Freunde und Verwandte, der Hass auf Russland geht immer tiefer. 

STANDARD: Wie geht es weiter, was ist die Strategie der Ukraine?

Scherba: Wenn es für Russland eine deutliche Niederlage an der Front gibt, mit einer großen Anzahl an Kriegsgefangenen, dann wird dies das Vertrauen in Putin weiter schwächen. Putin könnte es sich ja leisten, sich zurückzuziehen. Er hat die Propaganda so in der Hand, dass er sogar eine Niederlage als Sieg verkaufen kann, und sie würden es ihm glauben. Deshalb ist unsere Hoffnung, dass die ukrainische Großoffensive Erfolge erzielt.

Ukrainische Soldaten nahe der ostukrainischen Stadt Bachmut
Ukrainische Soldaten nahe der ostukrainischen Stadt Bachmut am Wochenende. Die ukrainische Bevölkerung ist laut Olexander Scherba "absolut überzeugt", dass der Krieg gewonnen werden kann.
APA/AFP/ANATOLII STEPANOV

STANDARD: Präsident Selenskyj fordert einen Nato-Beitritt. Polen ist dafür, Deutschland bremst, will aber eine Sicherheitsgarantie für die Ukraine. Hilft das Ihrem Land?

Scherba: Unsere Einschätzung ist, dass eine Beitrittsperspektive erstmals möglich ist. Diese Hoffnung werden wir nie aufgeben. Wir haben leider schlechte Erfahrungen mit Beitrittsalternativen gemacht. Im Budapester Memorandum hieß es, wir bekommen "security assurances" – und wir verließen uns darauf. Es stellte sich leider heraus, dass Assurances nichts sind. Wir fragen uns, ob der jetzige Versuch, Nato-Mitgliedschaft durch Sicherheitsgarantien zu ersetzen, nicht wieder ein Wortspiel ist. 

STANDARD: Kommen wir zum Verhalten Österreichs seit Kriegsbeginn: Da war Kanzler Nehammers Besuch bei Putin, die SPÖ, deren Mandatare bei Selenskyjs Rede den Nationalrat verließen, ganz zu schweigen von der FPÖ, die der Rede geschlossen fernblieb. Große Unternehmen zogen sich nicht aus Russland zurück, unabhängig von russischem Gas sind wir auch noch nicht. Und nun diese "Friedenskonferenz", bei der beinahe der ÖGB als Gastgeber aufgetreten wäre. Andererseits hat Österreich viele Geflüchtete aufgenommen. Wie ist Ihre Bilanz?

Scherba: Mir fallen vor allem Highlights ein. Das Heldentor in Gelb-Blau, davor der Bundespräsident und der Bundeskanzler. Dann die Aufnahme abertausender Ukrainerinnen und Ukrainer. Die Rede des Bundespräsidenten bei den Bregenzer Festspielen. So deutliche Worte habe ich von keinem anderen europäischen Politiker gehört. Das war für mich Europa, das war ungemein bewegend. Parlamentspräsident Sobotka hat 25 ukrainische Waisenkinder in Niederösterreich aufgenommen, dafür bin ich unendlich dankbar. Dass die österreichische Abhängigkeit von russischem Gas wieder so hoch ist, sehe ich auf der Sollseite. Ebenso das skandalöse Verhalten der FPÖ und von Teilen der SPÖ bei Selenskyjs Rede im Parlament. Gerade die FPÖ, eine Partei, deren Vorgängerin von ehemaligen Nazis gegründet wurde. Dass diese Leute bei der Rede eines ukrainischen Juden, eines Präsidenten, dessen Familie den Holocaust überlebt hat, aufstehen und den Saal verlassen – das war derart historisch falsch. Und emotional kränkend für mich. Daher ... gemischte Gefühle. Gott sei Dank ist die FPÖ nicht ganz Österreich. Auch das habe ich deutlich gemerkt, gleich nach Ausbruch des Krieges, bis heute.

STANDARD: Sie sagen, der gesamte Westen habe sich mit der Ukraine solidarisiert. Global gesprochen ist das eine Minderheit an Ländern. Muss man das hinnehmen, oder arbeiten Sie daran, das zu verändern?

Scherba: In der Tat ist die Welt geteilt. Es gibt den Westen, der sich mit uns solidarisiert hat, den Globalen Süden, der vorgibt, neutral zu sein, und es gibt eine kleine Gruppe an Ländern, die an der Seite Russlands stehen. Militärisch gesehen etwa der Iran. Ich erkläre mir das so: In diesem Krieg sind die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg wieder hochgekommen. Viele Länder haben sich in der Ukraine erkannt. Ein polnischer Diplomat sagte zu mir: "Das war genau wie bei uns 1939." Die Briten haben bestimmt an das Jahr 1940 gedacht, als London von den Nazis bombardiert wurde, auch in Wien dachte man wahrscheinlich an die Zeit, als diese wunderschöne Stadt in Ruinen lag. Das hat die Menschen aufgewühlt. Und in den Ländern, die das Trauma des Zweiten Weltkrieges nicht hatten, hat die Aggression Russlands viel weniger Resonanz gefunden.

STANDARD: Sie ziehen einen direkten Vergleich zwischen der russischen Aggression und dem Naziterror. Finden Sie das historisch zulässig?

Scherba: Ich weiß, dass das in Österreich unpopulär ist. Aber wenn jemand auf der Welt das vergleichen kann, dann sind das wir. Wir verloren im Krieg gegen Nazideutschland mehr Soldaten als die USA, Großbritannien und Frankreich zusammengenommen. Unser Land wurde zugrunde verbrannt. 1941 rollten die deutschen Panzer mit der gleichen Arroganz über unsere Grenze wie die russischen am frühen Morgen letzten Februar. Am 22. Juni 1941 wurde Kiew von den Nazis um 4 Uhr morgens bombardiert – wie auch am 24. Februar 2022. Denken Sie auch an die Strafaktion in Butscha. Da drängen sich Parallelen zu Strafaktionen der SS auf. Das Leiden damals und jetzt hat viele Ähnlichkeiten.

STANDARD: 2024 laufen die Verträge aus, die russisches Gas durch ukrainische Leitungen unter anderem nach Österreich bringen. Wird danach noch russisches Gas fließen?

Scherba: Ich bin nicht befugt, diesbezüglich Erklärungen abzugeben. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass die Ukraine irgendeinen Vertrag mit Russland unterzeichnen oder verlängern würde. Das ist aus und vorbei. Alle Brücken sind abgebrannt. Sogar wenn das gegen die wirtschaftlichen Interessen der Ukraine geht, wird diese Frage prinzipiell entschieden. (Petra Stuiber, 19.6.2023)