Gerade vor Prüfungen im Studium oder in der Schule klingt es reizvoll, einfach unterbewusst per App im Schlaf zu lernen.
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Wir lernen fürs Leben – aber muss es so anstrengend sein? In einer Umfrage ermittelte die Universität Konstanz, dass Soziologie-Studierende pro Woche 22,6 Stunden mit Lernen zubringen. Angehende Veterinärmediziner kommen sogar auf 44,6 Stunden. Als ein Forscherteam vor einigen Jahren Hinweise fand, dass man im Schlaf lernen könne, inspirierte das einen Oberösterreicher zur Entwicklung einer Schlaflern-App. Ein Selbsttest soll zeigen, ob "Lazy Learn" wirklich beim effektiven Lernen hilft.

Lernen im Schlaf laut Studie möglich

Bei den besagten Forschungsergebnissen handelt es sich um eine Studie der Universität Bern aus dem Jahr 2019. Ein Forscherteam um die Psychologin Katharina Henke hatte sich dem Thema Schlafforschung verschrieben und in einer Studie eine spannende Entdeckung gemacht: Während bestimmter Schlafphasen sei es möglich, neue Vokabeln einer völlig fremden Sprache zu erlernen. Dass unser Gehirn im Tiefschlaf Informationen und Erlebnisse eines Tages verarbeitet, ist bekannt. Im Hippocampus, einer Hirnregion, die für unser Gedächtnis eine wichtige Rolle spielt, werden die Erfahrungen zwischengespeichert. Damit diese Erinnerungen nicht in Vergessenheit geraten, müssen sie vom Hippocampus in die Hirnrinde übertragen werden. Dieser Prozess findet vorrangig im Tiefschlaf statt – und bildete die Basis für die Idee hinter der Berner Studie.

Bei der Studie wurde allerdings auf Erlebnisse im Wachzustand gänzlich verzichtet: Den Probanden wurden im Schlaf Wortpaare von jeweils einem echten und einem Fantasiewort vorgespielt, ohne dass sie diese zuvor gehört hatten. Anschließende Tests zeigten, dass 60 Prozent der Fantasiewörter richtig zugeordnet werden konnten. Der Grundstein für unbewusstes Lernen schien gelegt.

Schlaflern-App aus Oberösterreich

Die Ergebnisse ließen Ralph Ohler keine Ruhe. Mit Experten der Forschungsgruppe Aist der FH Hagenberg entwickelte er die Lernapp "Lazy Learn", die nicht nur klassisches Lernen revolutionieren, sondern auch im medizinischen Bereich anwendbar sein soll. Denn neben Schülerinnen und Schülern könnten sowohl Demenz- und Schlaganfallpatienten als auch Menschen mit Depression oder Burnout vom Schlaflernen profitieren, meint Ohler.

Wissenschaftlich erprobt ist die App bisher nicht, man bemüht sich derzeit um eine Kooperation – beispielsweise mit der FH für Gesundheitsberufe –, um langfristig eine fundierte Untersuchung zu ermöglichen. Besonders für den Einsatz im medizinischen Bereich sind erst noch umfangreiche Studien erforderlich.

Der erste Eindruck

Die App befindet sich noch in der Entwicklungsphase, steht aber derzeit in gängigen App-Stores kostenlos zum Download bereit. Für die Nutzung benötigt man lediglich ein Benutzerkonto (E-Mail-Adresse), dann kann es auch schon losgehen.

Die Benutzeroberfläche ist minimalistisch gehalten: Der Startbildschirm trägt zwar die Überschrift "Lernpakete", fertige Aufnahmen, wie man sie auf der Webseite sieht, sind aber vorerst noch nicht verfügbar. Ein Plus-Symbol auf der sonst leeren Seite verrät, dass man per Upload oder Mikrofon nun selbst für Inhalt sorgen kann. Derzeit können Dateien mit bis zu 20 Minuten Länge eingespielt werden.

Fertige Lernpakete gibt es derzeit noch nicht. Eigene Inhalte lassen sich aber schnell hochladen oder aufnehmen.
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Im "Automatik-Modus" werden diese dann fünfmal pro Nacht, in Zehn-Minuten-Häppchen, abgespielt. Empfohlen wird eine Aufnahmelänge von fünf Minuten, der Lernstoff würde so also zweimal pro Schlafphase wiederholt. Mithilfe eines derzeit noch kostenlosen Konfigurators kann man die einzelnen Intervalle auch bearbeiten oder zusätzliche hinzufügen.

Die App im Test

Für einen aussagekräftigen Test braucht es zuallererst unvertrauten Lernstoff. In meinem Fall fiel die Wahl schnell auf eine Liste mit Hauptstädten, die sich seit jeher stur meiner Kenntnis entziehen. Um etwaiges Vorwissen zu berücksichtigen, versuchte ich vor der ersten Aufnahme, die Städte richtig zuzuordnen. Das Ergebnis soll mein Geheimnis bleiben, aber so viel sei verraten: Verbesserungspotenzial war da.

Die Spannung beim ersten Durchlauf war groß – hätte ich mir hunderte, vielleicht tausende Lernstunden in meinem Leben sparen können? Erwartungsvoll steckte ich mir die Kopfhörer in die Ohren, startete den Automatik-Modus, der nach 45 Minuten mit dem Abspielen beginnen würde, und hoffte auf die schlummernde Erkenntnis.

Nur schlafen reicht nicht ...

So viel vorweg: Ganz so einfach ist es nicht. Der Kontrolltest am nächsten Tag zeigte, dass meine Bildungslücken die Nacht unbeschadet überstanden hatten. Nach einmaligem Hören war mein Ergebnis identisch mit jenem vom Vortag. Laut Ohler ist dies aber nicht unüblich. Einige wenige würden bereits nach einmaliger Nutzung Erfolge verzeichnen, meist seien aber ein paar Anläufe nötig. So empfiehlt Ohler beispielsweise, zumindest drei Tage vor einer Überprüfung mit dem Schlaflernen zu beginnen. Mein eigenes Wissen blieb ohne zusätzliche Wiederholung unverändert.

… man muss schon auch wollen

Das muss aber nicht zwingend an der App liegen, denn erfolgreiches Lernen ist durch zahlreiche Faktoren bedingt. Allem voran spielen die persönliche Motivation, aber auch das Wiederholen im Wachzustand eine entscheidende Rolle. Immerhin haben "echte" Lernende eine weit stärkere Motivation, sich den Stoff zu merken, und würden ihn auch untertags wiederholen.

Und tatsächlich bewirkte ein zusätzliches Anhören der Aufnahme vor dem Einschlafen bereits, dass ich 44 Prozent der Städte richtig benennen konnte. Indem ich die Liste bewusst gelesen und dann über Nacht mithilfe der App wiederholt hatte, konnte ich das Ergebnis letztendlich auf 52 Prozent steigern. Zum Vergleich: Nur Durchlesen, ohne nächtliche App-Nutzung, brachte eine Trefferquote von 40 Prozent.

Neulernen im Schlaf: Nicht ohne EEG

Überbewerten darf man so einen einzelnen Testlauf freilich nicht. Das bestätigen auch Aussagen von Marc Züst, kognitiver Neurowissenschafter an der Universität Bern und Lead-Autor der Studie von 2019. Bei der Studie wurden die individuellen Schlafphasen der Probanden mittels Elektroden ermittelt und die Wortpaare während sogenannter SWS-Phasen (slow-wave sleep) abgespielt.

Wer dank smarter Gadgets seine Schlafphasen kennt, kann die voreingestellten Intervalle anpassen. Ohne EEG-Messung lassen sich die Einspielungen aber nur grob timen.
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Ein Neulernen im Schlaf hänge entscheidend von Tiefschlafwellen ab, die etwa im 1-Hertz-Rhythmus oszillieren, so Züst. Ohne EEG ließen sich die aber nicht zuverlässig ermitteln. Bei "Lazy Learn" können mithilfe des "Konfigurators" zwar die einzelnen Schlafphasen personalisiert werden, einer Überwachung mittels EEG kommt das aber nicht gleich.

Komplexer Lernstoff? Es ist kompliziert

Ebenfalls unklar ist, ob sich mit Schlaflernen auch komplexe Zusammenhänge erfassen lassen. Denn während Vokabeln oder Städtenamen verhältnismäßig wenig Verständnis erfordern, ist bei längeren Sachtexten schon im Wachzustand mehr Aufmerksamkeit gefragt.

Die Studie habe gezeigt, dass die exakte Phase, in der man Wörter einspielt, eine entscheidende Rolle für den Lernerfolg spiele, erklärt Züst. "Kontinuierliches Material, wie ganze Sätze, ist viel schwieriger mit den Hirnwellen zu koordinieren", so der Experte. Hier wäre eine umso genauere Messung der Hirnaktivitäten erforderlich. Sich hier nur auf das Smartphone zu verlassen sieht er eher skeptisch.

Kombination aus bewusstem und unbewusstem Lernen

Berechtigt ist auch der Einwand, dass ein zusätzliches Wiederholen des Lernstoffs die Ergebnisse des Tests verfälscht. Dieses Szenario ist zwar sicher realistisch – kaum jemand würde vor einer Prüfung riskieren, ausschließlich "im Schlaf" zu lernen –, es wäre aber falsch zu behaupten, dass die dramatische Verbesserung im Selbsttest nur der App zu verdanken ist.

Die Kombination aus bewusstem Lernen und nächtlichen Einspielungen ist aber nicht abwegig. Der wissenschaftliche Begriff dafür lautet TMR ("targeted memory reactivation") und wird ebenfalls intensiv erforscht. Bei dieser Methode wird am Vortag zuerst bewusst gelernt und dann im Schlaf einzelne Wörter (die "retrieval cues") eingespielt. "Damit werden diese Gedächtnisspuren im Gehirn reaktiviert und gezielt konsolidiert", erklärt Züst. Auch er sieht die zukünftigen Anwendungsmöglichkeiten für "Lazy Learn" eher in einem solchen kombinierten Ansatz als in einem Neulernen im Schlaf.

Der Vorteil bei der TMR-Methode: Diese scheint auch ohne EEG-Messung zu funktionieren, solange man die korrekten Schlafphasen trifft. Theoretisch sind hierfür schon spezielle Apps verfügbar, die anhand von Geräuschen und Bewegungen den richtigen Zeitpunkt erkennen könnten – "unter optimalen Bedingungen", fügt Züst hinzu. Denn ob sich die Phasen so wirklich zuverlässig ermitteln lassen, ist laut dem Experten fragwürdig. Bessere Ergebnisse würde man beispielsweise mit einem Sauerstoffsättigungssensor, der am Finger angebracht wird, erzielen.

Risiken und Nebenwirkungen?

Abschließend sei erwähnt, dass es noch kaum Erkenntnisse zu möglichen Nebenwirkungen des Schlaflernens gibt. Die nächtlichen Störungen durch die Einspielungen könnten unbekannte Auswirkungen haben – positive wie auch negative. So merkten Mitglieder der Berner Forschungsgruppe an, dass "Neulernen im Schlaf mit der Konsolidierung von am Vortag Gelerntem" interagieren könnte. Es wäre also möglich, dass die nächtlichen Einspielungen die Verarbeitung des Gelernten negativ beeinträchtigen. Andererseits könnten gezielt eingesetzte Aufnahmen belastende Erinnerungen abschwächen, mutmaßen die Autoren. Dies könnte wiederum für die Behandlung von Angst- und Belastungsstörungen genutzt werden.

Fest steht: Um die Wirksamkeit und potenzielle Nebenwirkungen zu klären, sind jedenfalls noch vertiefende Studien notwendig. Bis dahin bleibt "Lazy Learn" ein wenig erprobter, aber interessanter Vorstoß in die Welt des unbewussten Lernens. (Lisa Haberkorn, 18.6.2023)