Serhii Plokhy
Der Krieg und seine Folgen: Serhii Plokhy.
Tania D’Avignon

Pünktlich auf die Minute steht die Online-Verbindung zu Serhii Plokhy, dem weltweit wohl bekanntesten ukrainischen Historiker. Plokhy grüßt aus seinem Büro von der anderen Seite des Atlantiks, er lehrt an der Harvard University. In seinen vielfach ausgezeichneten Büchern hat er sich mit dem sowjetischen Imperium und vor allem mit der Geschichte seiner Heimat beschäftigt, die am 24. Februar 2022 von Russland angegriffen wurde. Über den Krieg, der schon 2014 begonnen hat, geht es in seinem neuen Buch.

STANDARD: Wo waren Sie, als der Angriff auf Ihre Heimat begann?

Plokhy: Ich war in Wien und fand am Morgen eine E-Mail in meiner Mailbox, deren Betreff lautete: "Oh, meine Güte". Ich begriff sofort, was dieser Betreff bedeutete. Etwas später schaltete ich die Nachrichten ein und konnte sehen, dass Russland mit einer großangelegten Invasion die Ukraine angriff. Viele Städte lagen unter Feuer, so auch auf meine Heimatstadt Saporischschja. Ich telefonierte mit meiner Schwester, die dort lebt. Es ist eine seltsame Situation. Obwohl man geahnt hat, dass ein großer Krieg im Bereich des Möglichen lag, ist man dennoch geschockt. Denn tief im Inneren hatte man die Hoffnung, dass es nicht passieren würde. Ein sehr seltsamer Mix an Emotionen, der einen in so einem Moment überwältigt.

STANDARD: Haben Sie geglaubt, dass es zu einer Invasion kommt?

Plokhy: Was ich auf jeden Fall sagen kann: Ich habe nicht erwartet, dass eine Invasion in diesem Ausmaß passieren würde. Ich war davon ausgegangen, dass der Krieg weitergehen würde – wie er im Osten der Ukraine schon seit 2014 lief. Die Anerkennung der Unabhängigkeit der Marionettenrepubliken in Luhansk und Donezk würde, so meine Idee, Russland einen Vorwand bieten, noch mehr Truppen im Donbass zu stationieren und so den Krieg zu forcieren. Das, was dann passiert ist, die Raketen auf Kiew und andere Städte, auch der Plan Putins, Kiew in kurzer Zeit einnehmen zu wollen, all das wirkte für mich damals zu fantastisch und zu unlogisch.

STANDARD: Haben Sie bei der Recherche zum Buch besser verstanden, warum es dennoch anders gekommen ist?

Plokhy: Ja, definitiv. Ich habe gelernt, dass Putins Niveau an Frustration ein Trigger für diese Art der Invasion war. Vor allem als klar war, dass das Abkommen Minsk 2 nicht in seinem Sinne durchzusetzen war, um die Separatisten-Republiken durch die anvisierten Wahlen in seiner direkten Einflusszone zu halten. Zudem haben wir Putin als großen Strategen und Taktiker überschätzt. So wie dieser große Krieg begonnen wurde, auf welchen Prämissen und mit welchen Zielen er losgetreten wurde, war ein schwerwiegender Fehler. In der Ukraine gab es vor dem Beginn der Invasion die Meinung, dass, wenn der Krieg kommen würde, dann ganz sicher nicht im Februar. Putin stand zu jenem Zeitpunkt unter Beobachtung der halben Welt, die bereits alarmiert war. Man war also handlungsbereit. Der Logik nach hätte es mehr Sinn für Putin gemacht, die Truppen zurückzuziehen, um in einem unerwarteten Moment zuzuschlagen. Wir Intellektuellen dachten, dass er mit einem viel logischeren und smarteren Plan hätte agieren müssen. Und wir haben die militärischen Fähigkeiten der Russen und die Macht der russischen Kriegsmaschinerie überschätzt.

Ukrainische Flagge
Die Ereignisse seit 2013 haben die Menschen in der Ukraine zusammengeschweißt.
AP

STANDARD: Wie schwierig war es, ein historisches Buch zu schreiben, während die Geschichte passierte?

Plokhy: Das war eine große Herausforderung. Ich brauchte eine Weile, um mich selbst zu überzeugen, dass ich das schaffen kann. Dabei hat mir geholfen, dass die Geschichte dieses Krieges nicht mit dem 24. Februar 2022 beginnt, sondern mit dem Ende der Sowjetunion. Eine Zeit, die in Bezug auf die Folgen der Auflösungsprozesse des Imperiums gut erforscht ist. Mir ging es darum zu zeigen, wie sich der Kampf der Ukraine bereits in den 1990er-Jahren als Kampf der Selbstbehauptung in diesem Auflösungsprozess entwickelte. Dieser historische Blick verschaffte mir das notwendige Selbstvertrauen für die Kapitel, die näher an der Gegenwart liegen.

STANDARD: Wolodymyr Selenskyj hat vom ersten Tag der Invasion an die Rolle des starken Anführers angenommen. Gibt es dafür Parallelen in der ukrainischen Geschichte?

Plokhy: Wir haben es mit einem großen Wendepunkt der ukrainischen Geschichte zu tun. Und in den vergangenen, plus minus, 100 Jahren ist dies der dritte wichtige Moment. Der erste war die Revolution von 1917 und die Erklärung der ukrainischen Unabhängigkeit. Damals stand Mychajlo Hruschewskyj im Zentrum der Ereignisse. Er war Historiker und Gelehrter. Er genoss große Autorität, was wichtig war für die parlamentarischen Prozesse auf dem Weg in die Unabhängigkeit. Der nächste Moment war 1991, als sich die Ukraine aus der Sowjetunion herausverhandelte. Leonid Krawtschuk war in jenem Moment der Mann der Stunde, ein typischer Apparatschik, der aber sehr clever war und die Gunst der Stunde erkannte. Er wandelte sich in Windeseile zu einem Vorkämpfer für die nationale ukrainische Idee. Und nun also Selenskyj, der sich als energischer Anführer im Stile eines Churchill entpuppt, obwohl das die wenigsten von ihm erwartet haben. Von einem ehemaligen Schauspieler und Komiker ohne große politische Erfahrung und mit keiner allzu erfolgreichen Präsidentschaft vor Beginn der Invasion.

STANDARD: Die Notwendigkeit des Moments hat ihn also geformt.

Plokhy: Ja, er ist genau der Mann, den die Ukraine in diesem schwierigen Moment braucht. Es sieht so aus, als hätte die Ukraine Glück gehabt, die Qualitäten von ihren Anführern zu bekommen, die sie in einem bestimmten Moment brauchte. Ich glaube, dass sein Talent als Schauspieler nicht darin lag, wie er gespielt hat, sondern in seiner Fähigkeit, das Publikum zu erreichen. Und diese Fähigkeit kann er offensichtlich gut übertragen – von der Theaterbühne auf die politische Bühne. Dazu kommt, dass er offensichtlich eine sehr mutige Person ist.

STANDARD: Es wird auch in der Ukraine diskutiert, ob Selenskyj seine neue Macht nicht dazu missbrauchen könnte, ein autoritäres System aufzubauen. Was meinen Sie?

Plokhy: Ich kenne die Sorgen und die Diskussionen, die sehr wichtig sind. Aber als Historiker sehe ich die Zukunft der Demokratie in der Ukraine wesentlich optimistischer. Erstens: Wir befinden uns im schlimmsten Krieg in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Man muss sich nur anschauen, was damals in Großbritannien passierte, wo Unterhauswahlen bis 1945 ausgesetzt wurden, oder in den USA, wo Franklin D. Roosevelt viermal zum Präsidenten gewählt wurde. Zentralisierung und Mobilisierung sind in solchen Zeiten notwendig. Ich wäre beunruhigter, wenn dies in der Ukraine nicht geschehen würde. Der zweite Grund für mein Vertrauen liegt in der ukrainischen Gesellschaft. Es gab in der Ukraine zwei Versuche, eine autoritäre Entwicklung durchzusetzen. Beide Versuche, 2004 und 2013, wurden mit massiven Protesten, mit der Orangen Revolution und dem Euromaidan, beantwortet. Es fällt mir wirklich schwer, mir vorzustellen, warum eine Gesellschaft, die sich auch jetzt im Zeichen des Überlebens und der Freiheit mobilisiert hat, die Macht einem autoritärer werdenden Selenskyj überlassen sollte. Ich kann mir überhaupt niemanden vorstellen, der die Basis, auf der die Idee der ukrainischen Freiheit fußt, zerstören könnte.

STANDARD: Eine weitere Gefahr, die immer wieder diskutiert wird, ist die des ukrainischen Nationalismus ...

Serhii Plokhy, "Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt". Übersetzt von Bernhard Jendricke und Peter Robert. € 26,80 / 496 Seiten. Hoffmann und Campe, Hamburg 2023.
Hoffmann und Campe

Plokhy: Aufgrund der offensichtlichen Bedeutung dieser Frage beim westlichen Publikum sehe ich Elemente von Orientalismus. Aber ich sehe keine Hinweise dafür, dass der Nationalismus in der Ukraine so mächtig ist. Ganz im Gegenteil. Alle Wahlen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass Ultranationalisten nur eine marginale Unterstützung erhalten. Swoboda blieb bei den Wahlen zur Rada 2019 deutlich unter der Fünf-Prozent-Hürde. Und das in Zeiten des Krieges im eigenen Land. In anderen europäischen Ländern sitzen dagegen Rechtsradikale in Parlamenten. Ich verstehe, warum ausgerechnet diese Frage so wichtig für die Europäer ist – aufgrund der Geschichte, auch wegen der Flüchtlingskrise, in deren Folge Rechtsradikale mehr Zulauf bekommen haben. Aber bitte, Freunde! Ihr nehmt euer großes Problem und projiziert es auf uns. Dass Nationalismus in der Ukraine existiert, bezweifle ich gar nicht. Aber meine Frage wäre eher: Warum ist er nicht so stark wie in anderen europäischen Ländern? Diese Frage bin ich gerne bereit zu diskutieren.

STANDARD: Und wie wäre Ihre Antwort?

Plokhy: Ich habe darauf keine finale Antwort. Man müsste sich damit akademisch auseinandersetzen. Die Popularität von Swoboda war am höchsten, als Janukowitsch an der Macht war. Vielleicht weil manche so ihre radikale Opposition gegenüber Janukowitsch zum Ausdruck brachten. Ansonsten kann man sagen, dass Swoboda dann an Zulauf verlor, je höher der Grad an Meinungsfreiheit war, weil die Menschen so ihren Protest in anderen Aktivitäten kanalisieren konnten.

STANDARD: Haben Sie durch die Arbeit an dem Buch besser verstanden, warum die Ukrainer einen derartig starken Widerstand leisten?

Plokhy: Die Ukraine hat seit 2013 eine gewaltige Transformation erlebt. Die damaligen Ereignisse haben die Menschen zusammengeschweißt und ihnen Selbstvertrauen gegeben, etwas verändern und sich erfolgreich widersetzen zu können. Putin glaubte, dass er mit dem Krieg das Szenario der Krim wiederholen könnte. Sein Fehler war, dass er die Transformation der Ukraine nicht einkalkuliert hat, wahrscheinlich hat er sie noch nicht mal begriffen. Die Resilienz der Ukrainer hat sich in den vergangen acht Jahren drastisch erhöht, weil sie militärisch im Donbass kämpften, weil Gesellschaft und Zivilgesellschaft für Reformen kämpften, gegen Korruption, für eine bessere Politik und Zukunft.

STANDARD: Die Zivilgesellschaft hat sich seit der Orangen Revolution stetig entwickelt.

Plokhy: Ja. Und das Ergebnis ist, dass sie die Regierung nicht mehr als Feind betrachtet, sondern als Verbündeten. Und der Staat hat sich so entwickelt, dass er als Beschützer der Zivilgesellschaft agiert. Es gab immer wieder Kritiker, die die Ukraine als "failed state" bezeichnet haben. Das kann man, gerade in diesem Krieg, beim besten Willen nicht behaupten. Der Staat funktioniert, obwohl er unter erheblichem Druck steht. Wenn man all das in Entwicklungsschritten betrachtet – und das tue ich in meinem Buch –, ist der Widerstand der Ukrainer im Krieg seit 2022 weniger überraschend, sondern vielmehr eine logische Konsequenz, die sie sich erkämpft haben. (Ingo Petz, 17.6.2023)